Der Volksaufstand von Herten

In der Ruhrgebietsstadt soll eine Klinik für 90 Straftäter gebaut werden – und die ganze Stadt wehrt sich. In einem Klima von Angst und Bedrohung finden gemäßigte Stimmen kein Gehör  ■ Aus Herten Walter Jakobs

„Nie, niemals werden wir das akzeptieren.“ Mit Tausenden von Gleichgesinnten bildet Ursula Halama am Tag der deutschen Einheit eine Menschenkette, um „das Unheil“ noch abzuwenden. Hinter der resoluten Frau prangt eine Infotafel auf einem sechs Meter hohen Gerüst: „Herten wehrt sich. Bürgerschaft, Rat und Verwaltung der Stadt Herten verhindern den Bau einer Klinik für psychisch kranke Schwerstkriminelle“.

Gegenüber, auf dem hinter Bäumen und Hecken liegenden Maisfeld, will der Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) mit Billigung des Düsseldorfer Gesundheitsministers Axel Horstmann (SPD) eine forensische Klinik bauen – zur Entlastung der überbelegten Straftäterklinik im 100 Kilometer entfernten Eickelborn.

Eickelborn! Es reicht, diesen Namen in Herten zu nennen. Da kann Minister Horstmann auf Flugblättern noch so oft verkünden, in Herten werde ein „optimales Maß an Sicherheit“ garantiert, er erntet nur Hohn und Spott. Als während einer Versammlung im Kulturtreffpunkt „Glashaus“ eine Frau berichtet, daß Eickelborner Eltern „jede Verabredung von Kindern“ durch telefonische Nachfrage kontrollieren, sind sich alle einig: So wollen sie nicht leben. Schon der Gedanke an „Freigänger“ verbreitet Grusel. „Ich bin nicht hysterisch“, versichert eine Mutter, die mit ihren beiden kleinen Kindern in der Siedlung gegenüber der geplanten Klinik wohnt, „aber ich habe echt Schiß.“

Am 22. September 1994 wurde ein siebenjähriges Mädchen Opfer eines Freigängers aus Eickelborn. Der damals 24jährige Dirk Sklazik, der als Jugendlicher mehrere Mädchen vergewaltigt hatte, durfte nach einer günstigen Begutachtung durch die Eickelborner Klinikärzte täglich eine Stunde allein ausgehen. Die positive Sozialprognose entpuppte sich als tragischer Irrtum. Sklazik mißbrauchte das Mädchen und tötete es mit 13 Messerstichen.

Den Namen der Ermordeten kennt in Herten jeder. Und jeder weiß auch, daß in Eickelborn vier Jahre zuvor ein 13jähriges Mädchen von einem Freigänger ermordet worden war. Der Versicherung von Dr. Wolfgang Pittrich, Gesundheitsdezernent des LWL, „wir lassen unbegleiteten Ausgang in Herten nicht zu“, vertraut niemand. Im „Glashaus“ gibt ein erregter Mann einen RTL-Bericht wieder: „Am Tag des Verbrechens waren von den 350 Insassen in Eickelborn 42 als Freigänger unterwegs!“ Nach ihm geht eine Kinderkrankenschwester ans Mikrophon. Sie schluchzt, ihre Worte sind kaum zu verstehen: „Woher nehmen die sich das Recht, mich in Angst um meine Tochter zu versetzen?“ Der Saal antwortet auf ihre mit tränenerstickter Stimme bekundete Angst mit langem Beifall.

Irmgard Kubiak, Mutter einer zehnjährigen Tochter, weiß von Familien, die aus Herten wegziehen wollen, sollte die Klinik kommen. „Ich bin zwar nicht der Typ, der so schnell in Tränen ausbricht“, sagt Kubiak, „aber auch ich habe Angst.“ Den Hinweis auf wahrscheinlichere Gefährdungen ihrer Tocher, etwa im Verkehr, läßt die Verwaltungsangestellte nicht gelten: „Das sind Risiken, die das Alltagsleben mit sich bringt. Die kann ich nicht verhindern.“ Aber dem „zusätzlichen Risiko durch den Klinikbau“, dem will sie sich nicht beugen. Und sie ist „heilfroh“, daß sich dagegen so viele Menschen engagieren.

Es ist eine Volksbewegung: Über 60.000 Protestunterschriften, Demonstrationen, Leserbrieffluten – die Volksseele kocht, seitdem die Nachricht vom Klinikbau die Stadt am 13. September erreichte. Hubert Wessing, grüner Ratsherr, erklärt die „Panik“ auch damit, „daß die Angst systematisch geschürt wurde“. So habe das „Katastrophengeschrei“ des sozialdemokratischen Bürgermeisters Karl- Ernst Scholz, der im Verein mit der CDU und den Kaufleuten sofort den „Imageschaden“ für die Stadt beklagt hatte, zu der „Hysterie“ beigetragen.

Auch die Grünen halten zwar von dem geplanten Standort am Schloßpark nichts, doch einen triftigen Grund, Herten von vornherein als Standort für die Klinik auszuschließen, sehen sie nicht. Als Hubert Wessing diese Position während einer von 3.000 Menschen besuchten Ratssitzung erläutern wollte, entriß man ihm das Mikrophon, warf ihm Flaschenkorken und eine Büchse an den Kopf. Seine Parteifreundin Eva Vogt wurde niedergebrüllt, als sie versuchte klarzumachen, daß das Grundgesetz auch für Straftäter gelte. Später erhielt sie anonyme Briefe: „Hoffentlich werden Sie die erste sein, die einem Mörder in die Hände fällt.“

Offene Hetze leistete sich die Junge Union. In Flugblättern bezeichnete sie die forensische Klinik als „Müllablage des Landes“: neben der Müllverbrennungsanlage und der Psychiatrie in Herten. Und weiter schrieben die jungen Christdemokraten an die „lieben geistesgestörten Schwerverbrecher“, mit dem Klinikbau sei sichergestellt, „daß Sie auch in Zukunft nach Herzenslust morden und vergewaltigen können“.

SPD-Bürgermeister Scholz spricht von „einzelnen Entgleisungen“, die „wir deutlich verurteilen“, die aber „bei einer solch großen Bürgerbewegung nicht zu vermeiden“ seien. In der Sache läßt sich Scholz von solchen Tönen nicht irritieren: Erst gestern bat er die Bürger, „Besonnenheit zu zeigen“, aber im Kampf gegen die Klinik nicht nachzulassen.

So leicht mag es sich der katholische Pfarrer Robert Schultes nicht machen, obwohl auch er öffentlich gegen die geplante Klinik auftritt, die direkt neben dem katholischen Elisabeth-Krankenhaus gebaut werden soll. Über manche Entwicklungen in den letzten Tagen sei er schon „beunruhigt“, sagt Schultes in seinem mit Papieren überladenen Büro. Aber der in manchen Berichten vermittelte Eindruck, „daß in Herten der Mob tobt, ist nun wirklich falsch“. Ein ungutes Gefühl beschleicht den Pfarrer jedoch, wenn er weiter denkt: „Wenn das durchgezogen wird, weiß ich nicht, was hier passiert.“ Schultes macht nicht zuletzt das rigorose Vorgehen des Landschaftsverbandes dafür verantwortlich, daß jegliche Akzeptanz für das Projekt „total kaputt ist“.

Sein evangelischer Amtsbruder Andreas Noth sieht das ähnlich: „Wenn die Klinik durchgesetzt würde, könnte man hier für nichts mehr garantieren“, glaubt Noth, der als engagiertes Mitglied im Hertener Flüchtlingsrat die dunklen Seiten der Hertener Volksseele schon häufig zu spüren bekam. Beide Pfarrer sehen sich nicht mehr in der Lage, vermittelnden Stimmen Gehör zu verschaffen. In der Bergbaustadt mit 14 Prozent Arbeitslosigkeit, der gerade die Stillegung einer weiteren Zeche droht, liegen die Nerven blank: „Wir haben keine Reserven mehr“, sagt Pfarrer Schultes, „um dieses neue Problem noch anzupacken. Wir schaffen das nicht mehr.“

Am Mittwoch hat der Gesundheitsausschuß des Landschaftsverbandes mit sechzehn zu einer Stimme eine Vorentscheidung getroffen: Die Klinik für 90 Straftäter in Herten soll gebaut werden. Das höchste politische Gremium des LWL, der Landschaftsausschuß, in dem alle Parteien vertreten sind, wird den Beschluß heute sehr wahrscheinlich mit großer Mehrheit bestätigen. Seit Mittwoch abend wird in Herten mit Mahnfeuern und der Ankündigung juristischer Schritte wieder verstärkt protestiert.

Nach dem Bundesbaugesetz kann bei überörtlichem Interesse ein Standort ohne Einwilligung der jeweiligen Stadt durchgesetzt werden. Darauf setzen die Landesbehörden. Minister Horstmann: „Man kann sich bei dem Bau einer forensischen Klinik nicht einer gemeindlichen Entscheidung unterwerfen.“ Freiwillig spielt tatsächlich keine Gemeinde mit, weil jeder Lokalpolitiker fürchten muß, von der Antistimmung hinweggefegt zu werden. Schon erste Standortgerüchte reichten in Marl und Dorsten aus, um eine breite Gegenbewegung zu initiieren. „Hier in Herten werden sich die Leute an die Bäume ketten“, prophezeit Pfarrer Noth, „und ich bedaure jetzt schon den ersten Baggerführer.“

Über 80 Prozent der in Gerichtsverfahren als vermindert schuldfähig oder schuldunfähig anerkannten Menschen, die in der Regel in forensischen – gerichtlichen – Kliniken landen, gehören zur Gruppe der Gewalt- und Sexualstraftäter. Sie sind krank und gefährlich zugleich. Statt im normalen Knastvollzug landen sie im sogenannten „Maßregelvollzug“. Viele von ihnen werden nach jahrelanger therapeutischer Behandlung Schritt für Schritt auf ein Leben draußen vorbereitet und danach entlassen. Manche schaffen es nie und bleiben bis zum Lebensende hinter verschlossenen Kliniktüren.

Während rund 50 Prozent aller Straftäter aus dem normalen Strafvollzug rückfällig werden, liegt die Quote im Maßregelvollzug bei nur 20 Prozent. Die siebenjährige Natalie Astner aus der oberbayrischen Gemeinde Epfach könnte noch leben, wäre ihr Mörder Armin Schreiner in den Maßregelvollzug gekommen. Bundesweit werden dort derzeit 4.000 Menschen therapiert. Fehleinschätzungen mit tödlichen Folgen sind immer möglich – nicht nur in Eickelborn. Auch in der wohl fortschrittlichsten forensischen Klinik der Welt, in der Henri-van-der-Hoeven-Klinik in Utrecht, gab es solche tödlichen Irrtümer. 80 Prozent der schwierigen Patienten begingen innerhalb von drei bis acht Jahren nach der Entlassung zwar keine ernste Straftat – doch vier Menschen starben seit 1980 durch ehemalige Patienten.

In der Hertener Bürgerinitiative werben jetzt schon Leute für eine „Bürgerwehr“. Der Antrag eines alten Weltkriegsveteranen – „ich weiß, worauf es ankommt“ –, gleich mit der „Ausbildung“ zu beginnen, fand beim „Glashaus“-Treffen zwar keine Mehrheit, aber gut ein Drittel der rund dreihundert Teilnehmer spendete dem Vorschlag heftigen Applaus. Am Ende folgt die Mehrheit dem leitenden Arzt des katholischen Elisabeth-Krankenhauses, Dr. Weber.

Die „Bürgerwehr“ sei „sicher eine gute Idee“, befindet der Chefarzt, aber sie umzusetzen sei in der aktuellen Phase nicht gerade klug, „denn dadurch präjudizieren wir doch die Klinik, die wir verhindern wollen“. Blockieren will Dr. Weber die forensische Klinik in umittelbarer Nähe seines eigenen Krankenhauses auch, „weil man den Patienten nicht zumuten kann, aus dem Fenster auf Schwerverbrecher zu schauen“. Das sei, so der Arzt unter dem Beifall seiner Mitstreiter, „keine Panikmache: denn es gibt doch nichts Schlimmeres für eine Wöchnerin, als auf eine Klinik zu blicken, in der Menschen sind, die ermordet und vergewaltigt haben“.

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