■ Zur Wiederwahl des russischen Ministerpräsidenten
: Pragmatische Perspektive

Der wiedergewählte russische Ministerpräsident Tschernomyrdin verkörpert, was in Rußland momentan an gemäßigtem Pragmatismus möglich ist. Er hatte 1992 den radikalreformerischen Schocktherapeuten Jegor Gaidar abgelöst und sollte, ohne die Reform zu stoppen, ein gemäßigteres Tempo einschlagen. Genau das hat er geleistet.

Er wäre nicht auf seinem Posten geblieben, hätte es Zweifel an seiner Loyalität Präsident Jelzin gegenüber gegeben. Sein Habitus der stillen Loyalität war schon für die (ehemaligen) sowjetischen Manager typisch gewesen. Sie waren vielfach effiziente Administratoren großer Unternehmenseinheiten; sie wußten, was ihrem Industriezweig gut tat; sie hatten ein gewisses patriarchalisches Verantwortungsgefühl für ihre Beschäftigten – aber sie wären auf keinen Fall gegen ökonomische Dummheiten der politischen Klasse aufgetreten. Sie waren die effiziente zweite Reihe und wollten auch nicht mehr sein.

Die Kompetenz, die sich bei ihnen ansammelte und die sich jetzt in der neuen Regierung erkennbar bündelt, deutet eine zurückhaltende Politik an. Für Tschernomyrdin und seinesgleichen ist Rußland noch immer das Land der unendlichen und nutzbaren Ressourcen, denn Gas, Erdöl oder Holz bringen Devisen. Das gilt vor allem in einer Zeit, in der russische Industriewaren auf dem Weltmarkt nicht absetzbar sind.

Infrastruktur und wissenschaftlich-technisches Know-how, die für einen dauerhaften Aufschwung nötig wären, lassen sich ja nicht schlagartig verbessern. Die praktische Vernunft, die die neue russische Regierung verkörpert, ist nicht die der großen Reform oder der Rettung, sondern die des kundigen Weiterwurstelns.

Das gilt in besonderem Maße für die Ökologie. Rußland hat inzwischen viele Katastrophenzonen, doch große Aufregung hat es darum in den Führungsetagen nicht gegeben. Auch das Verhältnis zu den natürlichen Überlebenschancen ist also ein pragmatisches: Hinter den wirtschaftlichen Notwendigkeiten haben ökologische Flausen zurückzustehen.

Gerade an der Ökologie wird der Zeithorizont der wirtschaftlichen Elite Rußlands kenntlich: Sie hat allenfalls das nächste Jahrzehnt im Blick. Doch viel weiter reichen auch in etablierten Marktwirtschaften die Überlegungen selten. Erhard Stölting