Aufbauschende Berichte über Gewalt

■ Kriminalstatistiken sagen nicht alles, meint der Kriminologe Christian Pfeiffer. Zumindest an den Schulen benehmen sich die Kids nicht so brutal wie angenommen

Hannover(taz)– „Immer mehr gewalttätige Kinder an Schulen“, titelten vor nicht allzulanger Zeit die hannoverschen Lokalzeitungen. Die Gazetten waren alarmiert durch einen Bericht des niedersächsischen Landeskriminalamtes über die Entwicklung der Jugendkriminalität im Lande. Dieser stellte für die Jahre 1990 bis 1994 eine Verdoppelung der “Rohheitsdelikte an Niedersachsens Schulen von 128 pro Jahr auf 265 fest. Die Zahlen scheinen zu untermauern, was Zeitschriften und Fernsehen gerne kolportieren und ängstliche Eltern nur zu gern glauben: An deutschen Schulen drohen Gewaltverhältnisse wie man sie bislang nur an amerikanischen Highschools ausmachte.

Für Christian Pfeiffer ist das eine Frage der Lesart. Das Thema Gewalt in der Schule wird nach Ansicht des Leiters des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen regelmäßig von den Medien unzulässig dramatisiert. „Nach allem, was wir wissen, hat die Zahl der Gewaltdelikte an Schulen in den letzten zehn Jahren immerhin nicht nennenswert zugenommen.“ Die Schulen hätten schon immer in der Regel solche Probleme meist ohne die Polizei geregelt, sagt er. Vermutlich habe sich in den letzten Jahren nicht die Zahl der Gewaltdelikte, sondern das Anzeigeverhalten der Schulen verändert. Belegen kann der Kriminologe seine Skepsis gegenüber der Polizeistatistik mit einer anderen Datenquelle. Alle Schuldirektoren haben ernsthafte Verletzungen eines Schülers in jedem Fall an die zuständige Unfallversicherungsgenossenschaft zu melden. „Nach diesen Versicherungsdaten hat es eben in den letzten zehn Jahren bundesweit keinen nennenswerten Anstieg der Gewalt an den Schulen gegeben“, sagt Pfeiffer.

Zudem behauptet nicht einmal die unsichere Statistik des niedersächsischen Landeskriminalamtes, daß die Teenies oder die ganz Kleinen sich immer öfter bewaffnen, wie es reißerische Berichte über Gewalt an den Schulen oft suggerieren. Bei den Waffendelikten von niedersächsischen Jugendlichen und auch Kindern verzeichnet sie in den letzten drei Jahren einen Rückgang von knapp 20 Prozent. Geringfügig abgenommen hat in Niedersachsen in den letzten vier Jahren auch die allgemeine Kinderkriminalität: Wurden 1990 noch 838 von 100.000 Kindern von der Polizei als Tatverdächtige registriert, so waren es 1994 lediglich 828 von 100.000. Dem steht allerdings nicht nur in Niedersachsen, sondern bundesweit in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Kriminälität der Jugendlichen und Heranwachsenden, vor allem der jungen Männer gegenüber. Doch deren Tatort ist nicht die Schule.

Eine Untersuchung von Christian Pfeiffer zur „Kriminalität junger Menschen im vereinten Deutschland“ kommt zu dem Befund, daß der polizeilich registrierte Kriminalitätsanstieg in der Bundesrepublik praktisch allein auf wachsende Kriminalität junger Menschen zurückgeht. So ist die von Pfeiffer anhand der polizeilichen Kriminalstatistik errechnete Kriminalitätsbelastung der über 25jährigen Deutschen in den zehn Jahren nach 1984 insgesamt konstant geblieben. Das gleiche gilt im großen und ganzen für die über 25jährigen Bewohner der Bundesrepublik ohne deutschen Paß, wenn man die Verstöße gegen das Asylverfahrensgesetz und das Ausländergesetz nicht in die Berechnung der Kriminalitätsrate einbezieht. Völlig anders stellt sich die Situation bei den Jugendlichen dar: Um 48 Prozent bei deutschen Jugendlichen bis 18 Jahre und um 35 Prozent bei den deutschen Heranwachsenden ist in den letzten fünf Jahren die Kriminalitätsrate geklettert, die Pfeiffer stets genauer „Tatverdächtigenziffer“ nennt, da die Polizeistatistik nur Verdächtige erfaßt.

Für die ausländischen Jugendlichen und Heranwachsenden hat Pfeiffer für die Jahre 1988 bis 1994 einen Anstieg dieser Tatverdächtigenziffer um 24 respektive knapp 20 Prozent errechnet. Anders als bei den jungen Deutschen war bei ihnen allerdings auch schon in den achtziger Jahren die Kriminalitätsrate erheblich angestiegen. Überproportional zugenommen hat bei den jungen Menschen neben den Drogendelikten vor allem die Eigentums- und Gewaltkriminalität – etwa bei den deutschen Jugendlichen in den letzten fünf Jahren um 50 bis zu 80 Prozent.

Auch über die Gründe des Kriminalitätsanstiegs gibt die Statistik Auskunft: Von allen Altersgruppen verzeichnen die 15- bis 20jährigen in den letzten Jahren den höchsten Zuwachs an Sozialhilfeempfängern. Auch Regionalanalysen seines Institutes ergaben für Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen einen deutlichen statistischen Zusammenhang zwischen wachsender Armut und Kriminalität. Damit ist für den vorsichtigen Kriminologen ein kausaler Zusammenhang zwischen Armut und Jugendkriminalität noch nicht endgültig bewiesen. Pfeiffer führt auch inhaltlich Argumente für seine Armutshypothese ins Feld: „Natürlich hat es auch vor dreißig Jahren arme Jugendliche gegeben“, sagt er. „Doch damals hatte die Gesellschaft noch Visionen für die Armen: Etwa den amerikanischen Traum, daß jeder aus seinen Leben etwas machen kann. Oder den Feiertag der Arbeiterbewegung, den 1.Mai, der die Zuversicht vermittelte, daß die Kinder, die jungen Leute es einmal besser haben werden.“

In den letzten fünfzehn Jahren sei in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur die Zahl der Armen, sondern auch die der wohlhabenden Bürger stark angestiegen. „Deren Konsumstandards erklärt nun eine immer präsente und intensive Fernsehwerbung praktisch zur Norm für jedermann“, sagt Christian Pfeiffer. „Kriminell werden eben oft die, die ansonsten wenig Hoffnung haben, aus eigener Kraft, durch Beruf oder Bildungsweg aus ihrer Misere herauszukommen.“

Für Pfeiffer erklärt sich so auch der im Osten Deutschlands frappierende Unterschied zwischen den Geschlechtern, wo bei den 18- bis 21jährigen die Kriminalitätsrate der Männer 6,5mal höher liegt, als die der Frauen. „Die Männer sind eben nur auf eine Rolle programmiert, auf den beruflichen Erfolg, weichen viel häufiger in Kriminalität aus, wenn die Berufsperspektive fehlt.“

„Nur Täter zu verfolgen, löst die Probleme nicht“, sagte der Chef des kriminologischen Forschungsinstitutes. Auch deswegen lehnt er die aufbauschenden Berichte über Gewalt in Schulen ab. Schließlich sind die in der Regel mit dem Ruf nach schärferem Durchgreifen, nach härteren Strafen verbunden. Dabei ist die Schule für Pfeiffer eben gerade nicht der Ort der wachsenden Jugendkriminalität, die Orte sind „die Straße, Clubs, Freizeitheime und Fußballstadien“. Jürgen Voges