Miss Straflager

Kann Haft besser sein als Freiheit? In einer zweiteiligen Dokumentation zeigt Arte das Leben russischer Mädchen während und nach ihrer Haft in einem sibirischen Strafgefangenenlager

Von Katharina Söchtig

Auf einer bunt geschmückten Bühne steht die neunzehnjährige Genja in einem langen roten Abendkleid und strahlt über das ganze Gesicht. Ihre Haare sind zu einer aufwändigen Hochsteckfrisur aufgetürmt, der Taftstoff glänzt im Scheinwerferlicht. Genja ist Gewinnerin eines Schönheitswettbewerbs – allerdings der etwas anderen Art. Denn Genja ist eine verurteilte Mörderin, die zusammen mit 315 Mädchen in einem sibirischen Straflager für Minderjährige inhaftiert ist. Sie hat mit vierzehn den Nachbarjungen im Fluss ertränkt. Sie war mit Drogen zugedröhnt, der Kleine schrie zu laut.

Widersprüche wie die ungewöhnliche Szene einer Misswahl in einem Gefängnis ziehen sich durch die gesamte zweiteilige Dokumentation von Susanne C. Hanke hindurch. Sie porträtiert einfühlsam vier russische Mädchen. Im ersten Teil hat sie sie 2004 während ihrer Haft im Strafgefangenenlager für Minderjährige in Tomsk besucht, im zweiten Teil zeigt sie ihr Leben zwei Jahre später nach der Haftentlassung. Bemerkenswert sind die Aufnahmen im Straflager, die überraschend – und stark kontrastierend zur düsteren Vergangenheit der Insassinnen – fast idyllisch anmuten. Zwar müssen sich die jungen Frauen dem strengen Regiment der Lagerleitung, wozu Leibesvisitationen, permanente Überwachung und auch harte Arbeit in einer Textilfabrik gehören, unterwerfen. Bilder, wie sie in karierten Hemden, bei strahlendem Sonnenschein, im Gleichschritt und Lieder singend durchs Lager marschieren, konterkarieren das Klischee vom beklemmenden Gefängnisalltag.

Fast suggestiv setzt die Dokumentation die harte Realität, die die Mädchen nach der Haftentlassung in ihren Heimatstädten erwartet, ihrem „gesicherten“ Dasein im Straflager entgegen. Die Exhäftlinge haben extreme Schwierigkeiten, wieder einen Platz im Leben zu finden. Bilder von hässlichen, heruntergekommenen Kleinstädten Westsibiriens, in denen Alkoholismus und Kriminalität zur Tagesordnung gehören, lassen den Zuschauer deprimiert zurück. Völlig auf sich gestellt, kämpfen die jungen Frauen für ein selbstbestimmtes Leben – Therapieangebote während und staatliche Unterstützung nach der Haft gibt es in Russland nicht. Hanke kommentiert das Geschehen nur sehr verhalten, die Bilder sprechen meist für sich – ebenso die Tatsache, dass über 50 Prozent der ehemaligen Insassinnen wieder straffällig werden.

In Tomsk heißt es: „Im Lager ist es besser als in der Freiheit.“ Das kann auch Schönheitskönigin Genja bestätigen, die insgesamt sechs Jahre dort verbrachte. Sie schaut sich immer noch stolz die Fotos der Misswahl an und erinnert sich an eine „glückliche Zeit“, schwärmt von Heizung und fließend Wasser im Lager – Dinge, die es zu Hause nicht gibt.

1. Teil: „Misswahl hinter Gittern“, heute 22.05 Uhr. 2. Teil: „Der Freiheit ausgesetzt“, 8. 2. um 22.40 Uhr, jeweils Arte