Deutschland, ein Ausnahmeland

Fast alle Länder der Europäischen Union haben einen gesetzlichen Mindestlohn. Deutschland nicht. Dabei gibt es erfolgreiche Beispiele

Berlin (taz)■ Von den 27 EU-Mitgliedstaaten haben 20 einen gesetzlichen Mindestlohn, der zum Jahreswechsel vielerorts noch mal kräftig nach oben geschraubt wurde. Die Höhe variiert allerdings nach wie vor enorm. Luxemburg garantiert 9,08 Euro, Bulgarien hingegen nur 0,53 Euro, was nicht zuletzt an der niedrigeren wirtschaftlichen Leistungskraft des Landes liegt. Die meisten westeuropäischen Länder, so etwa Frankreich, die Niederlande, Belgien und Großbritannien, haben einen Mindestlohn von etwa 8 Euro.

In EU-Ländern ohne Mindestlohn ist die Tarifbindung hoch und dadurch ebenfalls ein Mindesteinkommen für alle gewährleistet, so etwa in Schweden, Finnland, Österreich und Italien.

Tarifverträge erreichen aber mittlerweile im Westen Deutschlands nur noch 68 Prozent und im Osten sogar nur 53 Prozent der Arbeitnehmer, so Angaben des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). Und selbst ein Tarifvertrag schützt noch lange nicht vor einem Armutslohn (siehe oben).

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert deshalb seit längerem, auch hierzulande einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 7,50 Euro einzuführen, den auch das WSI in dieser Höhe gutheißt. „Nur die Einführung eines Mindestlohns kann die Ausbreitung von Armutslöhnen verhindern, die der Staat dann am Ende aufstocken muss“, sagt WSI-Experte Hartmut Seifert.

Von Arbeitgeberseite und von Arbeitsmarktpolitikern der Union wird jedoch eingewandt, dass ein Mindestlohn in dieser Höhe Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichten würde.

Dass das nicht unbedingt der Fall sein muss, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Der Mindestlohn ist dort in den vergangenen sieben Jahren um mehr als 40 Prozent auf knapp 8 Euro angestiegen. Gleichzeitig sank die Arbeitslosenquote um 25 Prozent. So heißt es im aktuellen Bericht der britischen Niedriglohnkommission: „Seit seiner Einführung im Jahr 1999 ist der Mindestlohn ein riesiger Erfolg.“ Er habe das Leben vieler Niedrigverdiener spürbar verbessert und die Einkommensschere zwischen Frauen und Männern verringert. „Ohne signifikante negative Effekte auf Wirtschaft und Beschäftigung.“

Für das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ist jedoch entscheidend, wie hoch das Niveau des Mindestlohns in Bezug auf das durchschnittliche Einkommen ist. Das liegt in Großbritannien bei 40 Prozent, in Frankreich hingegen bei 60 Prozent. Zu hoch, sagt IW-Direktor Michael Hüther. Während in Großbritannien nur 1,5 Prozent der Vollzeitbeschäftigten vom Mindestlohn betroffen seien, würden in Frankreich 14 Prozent erfasst. Und da nicht nach Alter unterschieden werde, sei der Mindestlohn in Frankreich auch ein Grund für die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Hüther: „Berufseinsteiger und Menschen mit geringer Qualifikation verlieren aufgrund eines Mindestlohns in Frankreich ihren Arbeitsplatz.“

Die vom DGB vorgeschlagenen 7,50 Euro entsprächen allerdings nur rund 50 Prozent des Durchschnittseinkommens – Deutschland läge genau zwischen Großbritannien und Frankreich. Ob das zu hoch ist, darüber streiten sich die Experten. Und haben dafür auch noch ein bisschen Zeit. Denn umgesetzt wird ein branchenübergreifender Mindestlohn in Deutschland so schnell wohl kaum. Das haben Unionspolitiker diese Woche mehrmals klargestellt. So bleibt Deutschland auch weiterhin ein Ausnahmeland in der EU. WOLF SCHMIDT