Der Groove von Schwestern

So viel Bronx in Berlin war nie: Die New Yorker Free-, Funk- und Frauenband ESG gab ihr einziges Deutschlandkonzert in der Maria. Ein Grummeln vom Bauch bis unter die Füße

Ach, es ist zum Seufzen. Und auch zum Saufen. Da findet nach zig Jahren, wenn nicht überhaupt erstmals in Berlin, ein Konzert von ESG statt – und fast nur Fachpublikum geht hin. Also Leute, die von Berufs wegen den funky Wildstyle der fünf New Yorker Frauen schätzen. Ozeanische DJs, Minimal-Techno-begeisterte Plattendealer und ein paar Connaisseure in Sachen Feiern vom Sonar Kollektiv. Das macht unterm Strich vielleicht 200 Nachtmenschen aus dem Party-Umfeld. Dabei hätte dieser unglaublich groovende Abend in der Maria zahlenmäßig mindestens so viel Aufmerksamkeit verdient wie die letzte Love Parade. Ohnehin fühlt man sich nach einer Stunde mit ESG, als wären einem sämtliche Umzugswagen vom 17. Juli über den Schädel gerollt – House, Dubstep und Old-School-Electro inklusive.

Schon die Vorgeschichte der Band ist Legende. In den 70er-Jahren werden die vier Scroggins-Schwestern in der South Bronx von ihrer Mutter zum Musikmachen animiert – die besorgte Frau will ihre Töchter Deborah, Renee, Marie und Valerie lieber im Probenraum sehen als auf der Straße. Das Ergebnis hört sich 1980 so sehr nach der für New York typischen Mischung aus Noise und Disco an, dass die Mädchen von Ed Bahlman unter Vertrag genommen werden. Bahlman wiederum ist gerade dabei, mit seinem Label 99 Records eine Art von Punk-Funk zu lancieren, der vor allem in Europa einige Aufmerksamkeit bekommt. Plötzlich spielen ESG im Programm mit The Clash oder Public Image Ltd., plötzlich liegen die Dancefloors von Downtown Manhattan und die Grufthöhlen in London oder Manchester auf einer Linie; und ebenso plötzlich ist der Spaß wieder vorbei, als Bahlman um 83/84 seine Plattenfirma nach Rechtsstreitigkeiten entnervt einstellt.

Im Rückblick ist der frühzeitige Abgang von ESG nicht nur ziemlich bedauerlich. Sondern exemplarisch: Nachdem die Frauen anfangs als feministisch-afrodelische Spielart im Patchwork aus Minderheitenpop herumgereicht wurden, ist ihre Musik heute ein als cooles Wissen gehandelter Fetisch innerhalb der hübsch ausdifferenzierten DJ Culture. Der rare Scheiß von gestern für die Entscheider von morgen. Viva la Distinktion!

Trotzdem ist das Familienkollektiv, in dem bereits die nächste Generation an Töchtern mitmusiziert, angenehm laienhaft, souverän und superunterhaltsam geblieben: Wie die merklich auf die fünfzig zugehende Renee um ihr Mikrofon schleicht, ab und zu magische Statements einwirft – ein echter She-Master of Ceremony. Wie Chistelle als knapp 20-jähriger ESG-Nachwuchs wenige Gitarrenspitzen spielt und ansonsten mit einem Fingerschnippen ihre gut 90 Kilo schwere Sexyness in Bewegung setzt. Dazu Valerie, die mit filigran aufgefächertem Beckenrascheln bei gleichzeitig großartig stumpf kickender Bassdrum die hardest working woman im Schlagzeugbusiness darstellt.

Auf der Bühne ergänzen sich all diese Minimalismen und Beschränkungen, nehmen in der Verbindung ungeahnte Fahrt an. In den besten Momenten sind ESG eine Art Motörhead des Funk, nur dass der Druck bei ihnen nicht durch Lautstärke entsteht, sondern mit anschwellender rhythmischer Dichte. Wenn auch noch der Bass ins Rollen gerät, wenn Marie dazu ihren Congas einen leichten Klaps versetzt, dann ist das Ergebnis ein wunderbarer Monster Jam, der vom Bauch bis unter die Fußsohlen grummelt. Der Wumms kann eine Brücke sein: Binnen wenigen Minuten haben ESG den Laden praktisch im Griff. Sie lassen sich zu immer wonnigeren Tanzschritten anfeuern und fordern umgekehrt, dass nun aber gefeiert wird, als wäre diese Block-Party nie zu Ende. So viel Bronx gab es in Berlin jedenfalls noch nie.

HARALD FRICKE