Eine Gefahr – und eine Chance

über den Flugzeugabschuss im Osten der Ukraine

VON DOMINIC JOHNSON

Noch ist nicht gesichert, wer genau für den Abschuss des Fluges MH-17 über dem Separatistengebiet der Ostukraine verantwortlich ist, und vor allem ob er absichtlich und in voller Kenntnis des Zieles verübt wurde oder nicht. Aber unabhängig davon ist er mit 298 Toten der schwerste einzelne Terrorakt der jüngeren europäischen Geschichte und hebt die globale Ost-West-Konfrontation auf eine neue, brandgefährliche Stufe.

In den letzten Wochen hatte sich die internationale Aufmerksamkeit von der Ukraine abgewendet. Irak und Gaza beherrschten die Schlagzeilen, die Frage nach direkter russischer Unterstützung für die „Volksrepubliken“ in der Ostukraine sorgte längst nicht mehr für so viel Erregung wie zu Anfang. All das geht jetzt nicht mehr. Die Regierungen, deren Bürger jetzt zerfetzt in den Wiesen bei Schachtarsk liegen, können nicht mehr wegschauen.

Zunächst steht jetzt die Frage nach umfassender Aufklärung im Raum. Eine unabhängige internationale Untersuchung mit ungehindertem Zugang zum Absturzort, zu allen Wrackteilen und den Flugschreibern und zu allen mutmaßlich beteiligten Personen ist das Mindeste. Dazu müssen die in der Ostukraine herumvagabundierenden Raketen inspiziert und die Kämpfer unter Kontrolle gebracht werden. Dafür müssen die Regierungen in Moskau und in Kiew sowie die selbst ernannten Machthaber in Donezk kooperieren, und zwar auch miteinander.

Wenn das gelingt, wäre es ein Impuls für den Frieden. Wenn es scheitert, würde es allerdings eine militärische Lösung des Konflikts befördern – und zwar eine mit internationaler Mitwirkung. Sollten der Aufklärung des Todes von 298 Flugpassagieren vor Ort Steine in den Weg gelegt werden, könnten die internationalen Verbündeten Kiews dies zum Anlass nehmen, aktiver als bisher die gewaltsame Wiederherstellung der staatlichen Autorität der Ukraine auf dem gesamten Staatsgebiet zu fördern. Das würde russische Reaktionen hervorrufen – vielleicht nicht in der Ostukraine, aber an anderen Brennpunkten des neuen Ost-West-Konflikts.

Außer Kontrolle

Denn letztendlich geht es um mehr als einen Flugzeugabschuss. Die Lage in der Ostukraine insgesamt ist außer Kontrolle. Es ist eine Sache, wenn zweifelhafte Bewaffnete mit obskuren Zielen Chaos stiften. Es ist eine ganz andere, wenn aus einem der staatlichen Herrschaft entzogenen Landstrich Europas ein Terrorakt nie gekannter Größenordnung verübt wird. Keine verantwortliche Regierung kann daran ein Interesse haben.

Eigentlich müssten Ost und West jetzt also zusammenarbeiten, um den Brandherd Ostukraine zu löschen. Darin steckt eine Chance. Aber noch gibt es diese Zusammenarbeit nicht. Darin liegt die Gefahr. Noch ist es übertrieben, von einer Schicksalsstunde für Krieg oder Frieden in Europa zu sprechen. Aber vielleicht nicht mehr lange.