Das große Dilemma des Präsidenten

Nach der klaren Wiederwahl von Luiz Inácio Lula da Silva ist in Brasilien die Debatte über eine andere Wirtschaftspolitik neu entbrannt. Die Finanzmärkte und Washington hoffen auf Kontinuität, Unternehmer und Linke fordern raschere Zinssenkungen

„Wenn es Lula weiter allen recht machen will, wird sich nichts ändern“

AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER

George W. Bush knüpfte an den freundschaftlichen Ton an, den er gegenüber Luiz Inácio Lula da Silva stets pflegt. Telefonisch gratulierte der US-Präsident vorgestern seinem brasilianischen Kollegen zu dessen „spektakulärem“ Wahlsieg am Sonntag, als Lula 60,8 Prozent der gültigen Stimmen erhielt. Im Hinblick auf die bevorstehenden Kongresswahlen in den USA flachste Bush: „Sie müssen mir ein bisschen von Ihrem Know-how überlassen. Ich brauche das, um jetzt zu gewinnen.“ So lautet jedenfalls die Version von Außenminister Celso Amorim.

Tags zuvor hatte das US-Außenministerium in seinem Glückwunschstatement „jüngste Korruptionsskandale“ von Lulas Arbeiterpartei PT genannt. Ohne eigene Parlamentsmehrheit, so die Erklärung, sei die PT zur Zusammenarbeit mit der Opposition gezwungen, um „strukturelle Reformgesetze zu verabschieden, die entscheidend für die Verbesserung des Wirtschaftswachstums sind“. In einem Rückblick auf Lulas bisherige Regierungszeit ab 2003, heißt es, habe Lula einen „besonnenen Fiskalkurs“ eingeschlagen und bekannt, dass Brasilien zur Beibehaltung einer strengen Sparpolitik „keine Alternative“ habe.

Damit greift Washington undiplomatisch in die Debatte ein, die in Brasilien neu entbrannt ist. In seinem ersten Fernsehauftritt am Wahlabend hatte Lula mit einem Seitenhieb auf die USA klar gemacht, dass er seine Süd-Süd-Außenpolitik fortsetzen will: „Heute reden alle vom Mercosur und niemand mehr von der Amerika-Freihandelszone Alca“, sagte er – jenem strategischen Projekt Washingtons für den Subkontinent, das auf Initiative Venezuelas, Argentiniens und Brasiliens im November 2005 auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wurde.

Das am Sonntag unterzeichnete Abkommen zwischen der Staatsfirma Petrobras und Boliviens Regierung, das dem Andenland höhere Einnahmen aus der Erdgasförderung garantiert, verteidigte Lula gegen „reaktionäre Kreise“, die eine Konfrontation mit Bolivien gefordert hatten. Außenminister Amorim sagte, nach Venezuela würde er gerne Bolivien als nächstes Mercosur-Vollmitglied begrüßen.

„Die Armen werden in unserer Regierung Vorrang haben“, wiederholt Lula jetzt, kündigte aber zugleich die Fortsetzung einer „harten Fiskalpolitik“ an. Allerdings dürfe diese Politik „nicht länger auf Kosten der Armen gehen“. Damit bleibt offen, wie er die Wirtschaftspolitik konkret gestalten will. Die Unternehmer fordern Steuersenkungen und Kürzungen der Staatsausgaben, aber auch deutliche Zinssenkungen, die einen Kurswechsel der Zentralbank nötig machen würden – auf Letzteres drängt auch die Linke.

Die hohen Zinsen sind nicht nur für das niedrige Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent (2005) verantwortlich, sondern machen auch den Schuldendienst extrem kostspielig: „Die Zinsen, die der Staat in 14 Tagen zahlt, entsprechen dem gesamten Bolsa-Família-Programm“, sagt Lula-Berater Delfim Netto, „das ist ein brutaler Transfer vom öffentlichen Sektor an die Banken.“ Das Hilfsprogramm für 11 Millionen Familien kostet die Regierung umgerechnet gut 3 Milliarden Euro im Jahr. Am Montag bestätigte Lula den seit März 2006 amtierenden Finanzminister Guido Mantega, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger Antônio Palocci die Rolle des Staates stärken möchte. Andererseits rüffelte der Präsident jene Minister, die schon voreilig das „Ende der Ära Palocci“ ausgerufen hatten. „Diese Politik war vor allem meine Entscheidung“, machte er klar.

„Lula wird einen sicheren Weg wählen“, sagt sein Parteifreund Márcio Pochmann, „je nachdem, wie sich die Machtverhältnisse entwickeln.“ Das ist offen: Mindestens 16 der 27 gewählten Gouverneure stehen auf seiner Seite, doch das neue Parlament ist deutlich konservativer als das bisherige. Lulas Dilemma fasst der Ökonom Fernando Cardim so zusammen: „Wenn es Lula weiter allen recht machen will, wird sich nichts ändern.“