Erfolgsmeldung wird zur Hiobsbotschaft

Ein Drittel der Ostdeutschen sieht sich vom Aufschwung abgehängt, sagt der „Sozialreport 2006“. Außerdem glaube nur ein Viertel der Menschen in den neuen Ländern, sie seien vollwertige Bundesbürger. Experten beurteilen die Untersuchung kritisch

AUS BERLIN JAN GEORG PLAVEC

Die Ostdeutschen haben Angst vor der Zukunft, mehr als die Hälfte von ihnen war schon mal arbeitslos – und die Stimmung in Ostdeutschland ist so mies wie noch nie. Es ist ein düsteres Bild, das der Sozialreport 2006 von den fünf neuen Ländern zeichnet. Gestern präsentierte das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum (SFZ) Berlin-Brandenburg den im Auftrag der „Volkssolidarität“ erstellten Report in Berlin.

Die Forscher finden klare Worte: „Die Integration der Ostdeutschen ist insgesamt – bei allen anerkannten Fortschritten – nicht erreicht worden“, steht unter einer Grafik, die zeigt, dass die deutsche Einheit sehr uneinheitlich bewertet wird: Ein Drittel der knapp 900 befragten Ostdeutschen sieht sich als Wende-Verlierer; ein anderes Drittel betrachtet sich als Gewinner. Die Übrigen machen keine Angaben. „Die ostdeutsche Gesellschaft spaltet sich“, sagt Sozialforscher Thomas Hans vom SFZ. Besonderes Augenmerk verdienten jene 30 Prozent der Ostdeutschen, die „völlig draußen“ sind: „Die gehen zu keiner Weiterbildung, haben keine Chance mehr“, sagt Hans. Andere nennen diese Gruppe abgehängtes Prekariat.

Und das blickt nicht sonderlich optimistisch in die Zukunft. Das tun gerade einmal zehn Prozent der Ostdeutschen; besonders unzufrieden sind hingegen Arbeitslose, Facharbeiter und Menschen über 60. „Noch nie waren die Befürchtungen in den neuen Bundesländern so groß und die Hoffnungen so gering wie 2006“, steht im Sozialreport. Auch die Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage ist negativ. Gerade 23 Prozent finden, ihr monatliches Nettohaushaltseinkommen ermögliche „im Großen und Ganzen“ die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Und: Mehr als die Hälfte aller Befragten über 18 hat bereits Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit. Arbeit ist den Ostdeutschen wichtiger als Familie oder Partnerschaft.

Deshalb sind sie auch mehrheitlich dafür, dass der Staat einspringt, wo die Wirtschaft versagt, erklärt der SFZ-Forscher Thomas Hans. Jeder Zweite wünscht sich mehr Staat bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder im Rentenalter. 15 Prozent antworteten auf die Frage, ob sie die DDR zurückwollten, mit „Ja“; nur ein knappes Viertel der Befragten fühlt sich als echte Bundesbürger. Allerdings gehe es „nicht wirklich darum, die DDR wiederhaben zu wollen, sondern um Arbeit und ein auf eigener Erwerbstätigkeit beruhendes Einkommen“, interpretiert der Report. Mit „Vollkaskomentalität“ habe das aber nichts zu tun: „Die Notwendigkeit privater Vorsorge wird – zumindest von Jüngeren und soweit die Möglichkeiten des Einzelnen dafür gegeben werden – anerkannt.“

Das Problem, sagt SFZ-Forscher Hans, sei das gefühlte Abgehängtsein: „Erfolgsmeldungen über die auf Hochtouren laufende Konjunktur, an der man im Osten nicht teilhat, verstärken diese Frustration noch.“

Die Politik interpretiert die Studie freilich weniger dramatisch als die Sozialforscher: „Eine Gefahr, dass Ostdeutschland abgehängt wird, sehe ich so nicht“, verbittet sich Brandenburgs Wirtschaftsminister Ulrich Junghanns (CDU) in den Potsdamer Neuesten Nachrichten eine „Verliererdebatte“. Hans-Jürgen Misselwitz vom SPD-nahen Forum Ostdeutschland weist darauf hin, dass „es auch in Ostdeutschland Menschen gibt, die am Aufschwung teilhaben“. „Materiell geht es den Ostdeutschen heute zweifellos besser als vor der Wende“, sagt der Dresdener Finanzwissenschaftler Helmut Seitz. Daher warnt er: „Solche einseitigen Studien treiben eher einen Keil in die Gesellschaft. Der Aufbau-Ost-Experte hat „erhebliche Zweifel daran, dass das alles ostspezifische Probleme sind“.