Brathuhn statt Sex

SIEGER Tex Rubinowitz hat eine melancholische und irrsinnig komische Liebesgeschichte vorgelegt

KLAGENFURT taz | „Einen durch und durch pragmatischen Menschen kann man nicht anfassen, man kann ihn ja eigentlich auch nicht umbringen, du kriegst ihn nicht.“ Von Einsichten wie dieser wimmelt es nur so in „Wir waren niemals hier“, der Tex Rubinowitz den diesjährigen Bachmannpreis einbrachte. Es ist eine melancholische und zugleich irrsinnig witzige Liebesgeschichte zwischen einem Icherzähler und seiner ersten Freundin, der neurotischen, batterielutschenden Baltendeutschen Irma.

Dass Rubinowitz neben seinen Tätigkeiten als Reisejournalist, Schriftsteller und Musiker auch Cartoonist ist, merkt man seiner unaufhörlichen Pointenjagd deutlich an, die ganz frei von Sprachblumen und Psychoanalyse vonstattengeht. An einer Stelle grüßt Charlie Chaplin – nicht umsonst. Die beschriebene Beziehung wird immer mehr zur Slapsticknummer, in der das Ich von Irma gestellte Aufgaben bewältigen muss, etwa ein Brathuhn vom Wiener Prater klauen, um den nicht stattfindenden Sex zu kompensieren. Das US-Gesangsduo Righteous Brothers, der koreanische Film „Oldboy“, der Wiener Club U4, Falco – Rubinowitz geizt nicht mit Referenzen zur Popkultur und haucht seinem ohnehin bilderreichen Text damit noch mehr Leben ein.

Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover unter dem bürgerlichen Namen Dirk Wesenberg, lebt seit vielen Jahren in Wien. Jährlich fährt er zum Bachmannpreis, normalerweise, um mit seinem Kollektiv „Höfliche Paparazzi“ den Wettbewerb analytisch zu begleiten. In seinem Buch „Rumgurken“ befinden sich zwei Reportagen vom Bachmannpreis. Aufgrund seiner Erfahrungen sollte Rubinowitz wissen, dass Humor in Klagenfurt selten belohnt wird. So dürften Sieg und 25.000 Euro Preisgeld für den Autor eine Überraschung sein, für das Publikum vor Ort aber weniger.

Wenngleich sich die Jury am Samstagvormittag nicht einigen konnte, ob Rubinowitz’ schnelle und fehlerhafte Leseweise „scheußlich“ oder „kongenial“ war, kaum einer hatte nicht laut aufgelacht, als er brillante Sätze vorlas wie: „Sie meinte, die Bitterkeit des Bieres sei ihr zu arrogant.“ Besonders schön ist, dass es in der Erzählung erst zu einem Bruch kommt, als die unangreifbare Irma sich plötzlich nicht mehr entzieht und dafür eine Ohrfeige erntet. Die Sehnsucht nach Irma ist stärker als die Liebe zu ihr, und es ist traurig, dass all dies unbewältigt geblieben scheint, bis dreißig Jahre später eine Freundschaftsanfrage von Irma über Facebook kommt.

Gertraud Klemms Romanauszug „Ujjgayi“, der mit dem Publikumspreis in Höhe von 7.000 Euro geehrt worden ist, beginnt mit schmutzigem Geschirr am Muttertag. Die 1971 geborene Wienerin, die inzwischen mit Ehemann und zwei Adoptivkindern in Pfaffstätten in Niederösterreich lebt, hat eine postemanzipatorische Wuttirade vorgetragen, in der eine Protagonistin sich von der Selbstverständlichkeit des Kinderkriegens überfordert fühlt. Es wundert nicht, dass die seitenlangen Sätze, der radikale Ton und die Abgründigkeit des Alltäglichen die abstimmenden Zuschauer bewegt haben: „[?] es ist schon lange nicht mehr ihr Körper, es ist jedermanns Luststätte, Labstelle, Raststätte, Brutraum, und mittendrin der glasklare Gedanke, ihn [das Kind] einfach fallen zu lassen, um endlich schlafen zu können, und ein paar Momente später die Reue mit einer Schärfe, als hätte sie es wirklich getan [?].“

Radikal sind auch die Kriterien des Preises der Automatischen Literaturkritik, der von einem Team um Kathrin Passig am Rande der Bachmann-Zeremonie verliehen wird: Für „1. Zwei oder mehr Frauen, die 2. miteinander reden, und zwar 3. nicht über einen Mann“ gibt es etwa Pluspunkte. Die Erwähnung der Stadt Marseilles gibt einen Minuspunkt. In diesem Jahr ging dieser „objektivste und transparenteste Literaturpreis“, der „überwiegend ernst gemeint“ sei, an den Schweizer Michael Fehr. FATMA AYDEMIR

■ Alle Texte des Bachmannwettbewerbs auf www.bachmannpreis.eu/de/texte