Avantgarde mit Abwasser

In den letzten Jahren hat die Emscher für das Ruhrgebiet an Bedeutung gewonnen. Ein Musik-Festival versucht sich jetzt an künstlerischen Positionen zum gewandelten Verständnis des Entsorgungsflusses

von CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Lange Zeit war die Emscher das ungeliebte Kind des Ruhrgebiets. Weil seine Bürger lieber an Ruhr und Lippe flanierten und dort ihr Trinkwasser gewannen, wurde die Emscher zur betonierten und begradigten Kloake der Schwerindustrie, zum „toten Fluss“, wie es Raumplaner Achim Prossek ausdrückt. Beginnend mit der IBA-Emscherpark reüssierte sie dann doch als Lieblingskind von Städtebau- und Kulturverantwortlichen und wurde von diesen mit Renaturierung und Imagewandel belohnt. Schließlich brachte kaum jemand ihrem Abwasseraroma soviel Sympathie entgegen wie der Gelsenkirchener Ahmet Kizil: „Dieser Geruch da, das ist für mich wie Chanel Nr. 5.“

Dokumentiert ist dieses einmalige Liebesgeständnis im „Emscherplayer“, einer Website, die der Essener Experimentalmusiker Karl-Heinz Blomann für die Emschergenossenschaft gestaltete und die die polyphonen Erzählungen von AnwohnerInnen, StadtplanerInnen und MusikerInnen sammelt. Blomann selbst hat für seinen Beitrag sein Saxofon in ein Duisburger Pumpwerk getragen und bläst dort mit langgezogenen Tönen gegen den anschwellenden Lärm der Pumpmaschinen an.

Nächste Woche wiederholt er sein Experiment im Dortmunder Pumpwerk „Evinger Bach“ als Teil von „Upgrade: 1. Künstlertreffen der 3 Kulturhauptstädte 2010“. Tänzer und Musiker aus der Türkei und Ungarn besuchen die Kulturstädte Herne, Dortmund und Essen, um dort gemeinsam mit ihren deutschen Kollegen das Auf und Ab des Flusslaufes in Bewegung zu übersetzen. Deshalb zappelt eine Tänzerin schon mal an einem Kleiderständer und hat dabei ebenso viel Bewegungsfreiheit wie der Fluss in seinem Betonbett. Schon im August hatten alle Beteiligten bei einem zweitägigen Ortstermin ihre Kooperation vorbereitet. Klangmaterial lieferten die Archive der Emschergenossenschaft, hauptsächlich Field Recordings vom Flussufer. Diese wurden im digitalen Filter der Granularsynthese zum Soundtrack der aufgeführten Tanzstücke geformt.

Ein Umgang mit Quellmaterial, der für die meisten Künstler mittlerweile alltäglich ist. Der Dortmunder Richard Ortmann sammelt seit über zwanzig Jahren die sich wandelnden O-Töne des Ruhrgebiets auf Band, der Ungar Zlatko Baracksai hat für seine Performance ein Interface entwickelt, das die Bewegung der TänzerInnen in Parameter für die Klangsynthese umwandelt.

Und selbst wenn Karl-Heinz Blomann das Projekt mit dem üblichen Vokabular vom interkulturellen Zusammenwachsen Europas anpreist, verkörpert er hinter den Kulissen die Netzwerk- und Systemmetaphern rund um experimentelle und elektronische Musik. Seit 1997 kuratiert er das Dortmunder Open Systems-Festival, 1981 gründete er das Plattenlabel Aufruhr Records, das Experimentalmusikern aus der Region seit über 20 Veröffentlichungen eine Plattform bietet.

Für „Upgrade“ hat er sein Netzwerk in die Vergangenheit ausgeweitet und begeht mit der Wiedergeburt der Emscher auch den Geburtstag der Kunst. 1963 erklärte der Fluxus-Künstler Robert Filiou, dass am einem 17. Januar vor einer Million Jahren die Kunst begonnen habe, als jemand einen Schwamm in einen Eimer Wasser getaucht habe. 44 Jahre später soll es wohl ein Eimer mit Emscher-Wasser sein.

17. Januar 2007Upgrade: 1. KünstlertreffenEssen, Dortmund, HerneInfos: http://upgrade.festival-open-systems.de