Turbo-Abitur überholt Schüler

Die Hochschulreife nach nur zwölf Jahren stellt die Schüler vor große Probleme: Sitzenbleiber kommen in schnelleren Klassen nicht zurecht, der Wechsel von der Realschule wird schwieriger

von ANGELIKA BASDORF

Nordrhein-Westfalens Schüler müssen immer härter arbeiten. Wer jetzt im Gymnasium die sechste Klasse besucht, der macht 2013 Abitur – gleichzeitig mit den Schülern, die immer eine Klasse über ihm oder ihr waren. Der Lernstoff wird entsprechend komprimiert, die zweite Fremdsprache hat schon in diesem Jahr eingesetzt anstatt wie noch vor zwölf Monaten erst in der siebten Klasse. „Mehr Stoff, mehr Unterricht, mehr Druck“, sagt Norbert Becker von der Gewerkschaft Erzeihung und Wissenschaft (GEW) in Nordrhein-Westfalen. Ursprünglich sollte der Lernstoff „entrümpelt“ werden, nun aber muss in acht Jahren der gleiche Stoff vermittelt werden wie früher in neun. Damit stehen auf den Wochenplänen bis zu 35 Unterrichtsstunden. Selbst mit nur zwei Hausaufgaben pro Tag könnten Zwölfjährige ein höheres Wochenpensum absolvieren als ihre in Vollzeit arbeitenden Eltern.

Auch für andere Schulformen birgt die Verkürzung Nachteile: Ein Realschüler, der nach der Mittleren Reife auf das Gymnasium wechseln will, muss nun die zehnte Klasse wiederholen. Denn sie gilt dort jetzt schon als Oberstufe, in ihr werden schon die Abiturfächer gewählt.

Ungleich mehr Druck haben die Gymnasiasten der jetzigen siebten Klasse, wenn das Sitzen bleiben droht. Denn eine Klasse, die sie wiederholen könnten, gibt es nicht. Sie kämen stattdessen in eine Lerngruppe, die im Stoff aller Fächer schon so weit vorangeschritten ist, dass gerade für lernschwache Schüler der Anschluss hier schwierig sein dürfte. Wo liegt der Sinn des Sitzenbleibens, wenn damit kein Jahr verloren geht? Ist es dann nicht leichter, trotz schlechter Noten in der gewohnten Klassengemeinschaft zu bleiben? Im neuen Schulgesetz heißt es: „Die Versetzung ist der Regelfall.“ Nur zwei Prozent der Schüler in Nordrhein-Westfalen erreichen das Klassenziel nicht, und die Landesregierung will durch eine gesetzlich vorgegebene individuelle Förderung schwacher Schüler diese Quote weiter senken.

„Ergänzungsstunden dafür sind im Schulgesetz festgeschrieben“, sagt Nina Schmidt, Pressesprecherin des NRW-Schulministeriums. Der Umgang damit liege in der Verantwortung der jeweiligen Schule.

Was aber, wenn die zu fördernden Schüler sich dem Zusatzangebot verweigern? Können Eltern aus dem Recht auf individuelle Förderung ihres Sprösslings ein Recht auf Versetzung ableiten? In der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln beugt man dieser Möglichkeit vor und schließt mit den betreffenden Schülern einen Vertrag. Darin verpflichtet sich der so genannte Förderschüler, aktiv an der Aufarbeitung fachlicher Defizite zu arbeiten, die Erziehungsberechtigten verpflichten sich unter anderem zur Hausaufgabenkontrolle und die Schule bietet Förderstunden an. Im benachbarten Kölner Humboldt-Gymnasium wird die „solidarische Klasse“ praktiziert, in der starke Schüler den schwächeren Nachhilfe geben und die Gruppe sich selbst durch gemeinsames Lernen und Hausaufgaben machen hilft.

„Individuelle Förderung“ bleibt dennoch ein schwammiger Begriff. Und auch sie stößt an ihre Grenzen. Wo finden sich die trotz allen Wohlwollens Gescheiterten wieder? „Ich sehe das nicht so dramatisch“, sagt Beatrix Görtner, die Direktorin des einzigen Kölner Ganztagsgymnasiums. Gleichwohl müsse man in dem Jahrgang an der Schnittstelle besonders vorsichtig sein. Die Vorsitzende der Landeselternschaft an Gymnasien, Barbara Kols-Teichmann, glaubt dagegen nicht, dass ein Gymnasiast an der Schulzeitverkürzung scheitert. Mit den individuellen Angeboten werde die Zahl der Sitzenbleiber weiter sinken. „Diese werden ihr Versagen aber umso schlimmer spüren.“