Ein Kind vom falschen Vater

„Ich habe sie an mich gedrückt. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht länger. Dann war sie still“

AUS DESSAU THOMAS GERLACH

Es ist ein trügerisch-friedvolles Bild an jenem 1. Juli 2006: Anne S. kommt vorsichtig die Treppe herunter, eingehakt bei ihrem Freund Steffen, im Arm trägt sie ihr erstes Kind, Maria, in ein Handtuch gewickelt. Unten steht die neue Großmutter. Vermutlich hat sie geweint. Es ist, als leuchte in diesem Moment kurz das Glück auf, wovon Anne S. so geträumt hatte. Doch ihr Freund Steffen ist nicht der Vater des Kindes, und das Baby in ihrem Arm ist tot. Anne S. hat das Kind, das sie kurz zuvor im Bad des elterlichen Hauses in Klieken bei Dessau heimlich entbunden hat, wenig später so lange in einem Handtuch an sich gedrückt, bis es tot war. So erzählt sie es kurz vor Weihnachten unter Tränen bei der Hauptverhandlung im Landgericht Dessau.

In den Zeugenstand gerufen, beschreibt Annes Mutter Andrea S. jene Szene auf der Treppe, als Deutschland im Fußballtaumel lag und das Ehepaar S. ein befreundetes Paar zum WM-Abend eingeladen hatte. Die Gäste sitzen im Wohnzimmer, erzählen, trinken, im Fernsehen läuft das Viertelfinalspiel Portugal gegen England. Andrea S. hat gerade das Blut im Bad entdeckt und Gewissheit erlangt, dass ihre Tochter Anne ein Kind geboren hat – eine Totgeburt wie sie glaubte.

Damals auf der Treppe begriff sie alles. „Anne hielt ein ganz kleines Bündel. Da wurde mir zum ersten Mal klar, dass das kein Frühchen war.“ Andrea S. kämpft mit den Tränen. „Dann hat sie es ganz zärtlich in eine Tüte gelegt.“ Danach habe sie sich von ihrem Freund Steffen ins Krankenhaus fahren lassen. Auch den Ärzten wurde schnell klar, dass es sich nicht um eine Totgeburt handelte. Am späteren Abend kamen Kriminalpolizisten nach Klieken, um Spuren zu sichern. Anne S. wurde kurz darauf in Untersuchungshaft genommen. Die Regionalzeitung titelte: „Mutter soll Neugeborenes getötet haben“. Ähnlich lautende Schlagzeilen wird es in diesem Jahr noch einige geben.

Anne S. sitzt im Saal 118 vor der zweiten großen Strafkammer des Landgerichts Dessau und ist des Totschlags angeklagt. Wie konnte es dazu kommen, dass eine kluge, gebildete Frau ihr Kind erstickt? Denn verwahrlost ist Anne S. nicht – und das rührt nicht nur vom schwarzen Hosenanzug und der weißen Bluse her. Sie ist zwanzig Jahre alt, schlank, hat langes glattes Haar und wirkt zierlich. Anne S. hat sich entschlossen auszusagen. Bei den ersten Vernehmungen hatte sie noch behauptet, das Kind tot geboren zu haben. Doch das war nur das letzte Glied einer Kette von Ausflüchten, die auf eines hinausliefen – Anne S. wollte das Kind nicht, denn es hatte den falschen Vater.

Über eine Stunde gibt sie nun schon flüssig Auskunft über ihr Elternhaus, über ihren Werdegang. Leise, mit fester Stimme antwortet auf die Fragen des Vorsitzenden Richters Thomas Knief. Eines wird bald klar: Anne S. ist eine zielstrebige Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollte. Die Familie, Vater, Mutter, Bruder, hält zusammen, existenzielle Not gibt es nicht, die Eltern haben Arbeit, der Bruder hat eine Lehrstelle. So wie es Tochter, Mutter, Vater und Bruder unisono beschreiben, ist es eine Idylle. Und wenn rückblickend manches verklärt sein mag, ist Familie S. doch geradezu eine idealtypische Familie mit Arbeit, Eigenheim, Autos und Urlaub – bis zu jenem Sonnabend im Sommer vorigen Jahres. Anne S. besuchte das Fachgymnasium für Wirtschaft Dessau, wechselte auf eine Fachoberschule und arbeitete in einer Werbefirma. Über Anne brauchten sich die Eltern keine Sorgen zu machen. Sie kannten sogar schon den künftigen Schwiegersohn. Anne lebte seit drei Jahren mit Steffen im elterlichen Haus, einem Jungen aus der Nachbarschaft, der drei Jahre älter ist, als Elektromonteur arbeitet und einen großen Freundeskreis besitzt – im Gegensatz zu Anne, die sich als introvertiert beschreibt.

Möglicherweise schien alles zu geritzt, zu eindeutig. Jedenfalls klingt es ziemlich abgeklärt, als Anne S. erzählt, dass sich beide im September 2005 eine Auszeit geben wollten. „Doch es war von Anfang an klar, dass wir wieder zusammenkommen.“ Gesagt, getan. Steffen B. blieb im Haus wohnen, ging aber eine neue Beziehung ein.

Das hat Ihnen doch wehgetan?“, fragt Richter Knief. „Ja“, antwortet Anne S. und erzählt, dass auch sie sich, eher aus Trotz, auf einen neuen Partner einließ. Außerdem zog sie nach Taufkirchen bei München und begann eine Ausbildung als Bürokauffrau. Dort traf sie sich regelmäßig mit ihrem neuen Freund, der auch in der Region Arbeit gefunden hatte. Kurz vor Weihnachten 2005 wusste Anne S., dass sie schwanger war – trotz Pille.

Die Erste, die es ahnte, war ihre Mutter. Als Anne zu Besuch war, bemerkte sie, dass ihr Bauch runder geworden war. Frau S. nahm ihre Tochter beiseite, gab ihr Geld und schickte sie zum Schwangerschaftstest. Dass er positiv ausfiel, behielt Anne S. für sich. Stattdessen begann sie ein Gebäude aufzubauen, das aus Wunschvorstellungen, Illusionen und Lügen bestand.

Vor allem aber versuchte sie, das Kind abzutreiben – denn inzwischen hatten Anne S. und Steffen B. ihre Intermezzi beendet und wieder zueinander gefunden. „Warum wollten Sie das Kind nicht?“, fragt Richter Knief. Die Antwort, die Anne S. gibt, stößt bei vielen im kahlen, schmucklosen Saal des Dessauer Landgerichts auf Unverständnis. „Meinem Freund, Herrn B. habe ich das nicht erzählt, denn er hätte es großgezogen wie sein eigenes und meine Eltern auch.“ – „Dass Herr B. nicht sein eigenes Kind großzieht, das wollten Sie nicht?“, vergewissert sich der Vorsitzende Richter. Anne S. nickt.

Der Januar 2006 muss für sie ein hektischer, aber vor allem einsamer Monat gewesen sein. Weder der Vater des Kindes, noch der alte und neue Freund Steffen B., noch ihre Mutter erfahren ein Sterbenswörtchen. Stattdessen konsultiert sie die Frauenärzte der Region, die alle einen Abbruch ablehnten. Anne S. war da in der zwölften Woche schwanger. Sie suchte eine Beratung auf, erhielt neue Adressen – mit gleichem Resultat. Eine Praxis empfahl den Abbruch in den Niederlanden, was sie aus finanziellen Gründen verwarf.

Zuletzt schrieb sie E-Mails an psychologische Praxen, um eine medizinisch-psychologische Indikation zu erhalten, damit sie die Schwangerschaft doch noch abbrechen könnte. Keine Antwort. „Und dann?“, fragt Richter Knief. „Wusste ich nicht mehr weiter“, gibt Anne S. zu. Ihrer Umgebung, insbesondere ihren Eltern und Steffen B., hatte sie die Version aufgetischt, dass sie eine Scheinschwangerschaft habe, sie sprach auch von einer Gebärmutterentzündung und von einer Wasseransammlung im Unterleib. Keine Sorge, sie sei in München in Behandlung, beruhigte sie die Mutter, die bei jedem Besuch unruhiger wurde.

Die Mutter Andrea S. gibt im Zeugenstand später an, ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter auf die Tochter eingedrungen zu haben, aus Angst, dass sie sich gänzlich aus Klieken zurückziehen würde, sollte sich ihre Vermutung als haltlos erweisen. Eines wiederholt sie immer wieder: Sollte Anne schwanger sein, brauche sie sich nicht zu sorgen, auch nicht um ihre Lehrstelle – das Kind könne bei ihnen bleiben. Doch Anne S. hatte da einen neuen Plan. Sie trug weite Pullover, wollte in München gebären und das Kind zur anonymen Adoption freigeben. Auch eine Babyklappe zog sie in Betracht. Der errechnete Geburtstermin lag zwischen dem 5. und 7. Juli.

„Anne hielt ein ganz kleines Bündel. Da wurde mir zum ersten Mal klar, dass das kein Frühchen war“

Am 30. Juni fährt Anne S. mit dem Auto zu den Eltern, zwei Tage später, am Samstagmorgen, setzen die Wehen ein. Anne S. erzählt der Mutter, dass sie eine Erkältung habt und ein Vollbad nehmen will. Stundenlang liegt Anne S. in der Wanne. Ihre Mutter hat sich mehrmals nach ihrem Befinden erkundigt, und Anne S. hat sie durch die Tür beruhigt.

Am Nachmittag gebar sie in der Badewanne das Kind, mit einer Schere schnitt sie die Nabelschnur durch, dann hob sie das Baby aus der Wanne. Es war ein Mädchen. „Sie hat dann angefangen zu weinen.“ Der flüssige Vortrag von Anne S. ist längst ins Stocken geraten, sie atmet durch. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe sie an mich gedrückt. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht länger. Dann war sie still.“ Anne S. redet tränenerstickt weiter. „Ich wollte sie nicht töten, ich wollte nur, dass sie ruhig ist.“ Danach habe sie das Kind in ein Handtuch gewickelt, in ihr Zimmer getragen und aufs Bett gelegt. Anne S. gibt an, Wiederbelebungsversuche unternommen zu haben.

Die Mutter entdeckt kurz darauf das Blut im Bad, will sofort den Krankenwagen rufen. Anne S. weigert sich. Ins Krankenhaus gehe sie nur, wenn ihr Freund, Steffen B., sie hinfahre. Der wird gerufen und springt die Treppe hinauf. Wenige Minuten später kommen die drei herunter. Wer da zufällig hineingekommen wäre, hätte glauben können, eine Familie zu sehen.

Anne S. hat zwei Stunden gesprochen, zum Schluss nur noch unter Tränen. „Weinen Sie um sich?“, fragt Richter Knief. – „Nein, um meine Tochter“, schluchzt sie. Im Krankenhaus hat sie ihr den Namen Maria gegeben.

In der anschließenden Zeugenbefragung gaben Mutter, Vater, Bruder und Freund an, dass sie von der Schwangerschaft wohl etwas geahnt, sich aber mit Annes Erklärung letztlich zufrieden gegeben haben. Auch Säuglingsschreie habe an jenem Sonnabend keiner aus der Familie gehört. Maria S. wurde auf dem Dorffriedhof von Klieken kirchlich bestattet. Anne S. gab in der Verhandlung an, dass sie sich Kinder wünsche. Das hat sie mehrfach wiederholt. Es klang glaubwürdig. Für morgen wird das Urteil erwartet.