Siebzehn Minuten zum Beton

Vor einigen Jahren galt Wilhelmsburg noch als Hamburgs „Balkan des Südens“. Jetzt wird das Quartier aufgehübscht. Aus dem einstigen Problemviertel soll ein neuer Szene-Stadtteil werden

Wilhelmsburg war lange der Hinterhof der Metropole, das Viertel der „Kleinen Leute“, Hort der Verlierer und GewaltdelikteIm Supermarkt gibt es neuerdings eine Bio-Ecke und in der Veringstraße eine portugiesische Tapas-Bar

VON ANDREAS BOCK

Die Welt endet hinterm Jugendtreff. Doch manchmal, bei gutem Wetter, können Frank und Zoe von den Dächern der Hochhaussiedlung Kirchdorf-Süd den Hamburger Fernsehturm sehen. Beide leben seit 14 Jahren hier im Süden Wilhelmsburgs. Sie nennen sich Kirchdorfer, nicht Wilhelmsburger – auf diesen feinen Unterschied bestehen sie. Aufgewachsen am Rande der Autobahnraststätte Hamburg-Stillhorn, zwischen dem Supermarkt und der Plattenbauwüste, die durch Farbtupfer und Grünanlagen am Leben gehalten wird. Eine triste Jugend im Beton – ohne Musik, ohne Glanz und ohne Latte Macchiato.

In Kirchdorf-Süd wissen die wenigsten, dass Wilhelmsburg als zukünftiges Schanzenviertel gilt, dass Studenten bald beim Portugiesen ihre Referate vorbereiten oder Wohnungen in Alt-Wilhelmsburg, die lange leer standen, längst in Künstlerateliers umgewandelt wurden. Frank guckt zu Boden, schiebt seine Schuhe auf dem Asphalt hin und her. Er kennt das Hamburger Schanzenviertel nicht und über die Elbe fährt er selten, manchmal zum Dom oder zu H&M in die Mönckebergstraße.

In der Veringstraße, 17 Busminuten von Kirchdorf-Süd entfernt, hat Jörg Weber sein Büro. Jörg Weber ist Wohnungsmakler, sein Lieblingsprojekt ist das neue studentische Förderprogramm des städtischen Wohnungsunternehmens SAGA. Für 178 Euro Warmmiete bekommen Studenten ein Zimmer im Reiherstiegviertel, in Alt-Wilhelmsburg: „Wenn man Pech hat, findet man ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer, wenn man Glück hat, einen halben Tanzsaal mit Stuck und hohen Decken“, sagt Nadja. Die Studentin, die bislang in Jork bei Buxtehude lebte, hat mittlerweile eine Wohnung gefunden. Jetzt ist Schlüsselübergabe. Auch ihre zukünftige Mitbewohnerin ist gekommen – beide lernten sich auf einem Wohnungsrundgang kennen.

In der Veringstraße 65 soll eine Wohnung frei werden, eine Dreier-WG will ausziehen. Weber hat zwölf potenzielle Nachmieter. Kai ist begeistert: Parkettboden, ein langer Flur, eine Wohnküche. „Hier und da muss man vielleicht noch mal streichen“, überlegt er, „doch die Wohnung sieht eigentlich sehr schick aus.“ Kai wohnt in Borgfelde, doch „dort ist der Hund begraben“, sagt er. In Wilhelmsburg gibt es eine gute Infrastruktur, viele junge Leute, hier entsteht was, hat der Student sich sagen lassen. Er will den Sprung über die Elbe wagen: „Das Schanzenviertel war in den 80er Jahren ja auch eine Gegend, in der man nicht unbedingt wohnen wollte, an jeder Ecke standen Drogendealer“, glaubt Kai zu wissen. „Und heute ist es das absolute In-Viertel.“ Eine Entwicklung, die er sich auch für Wilhelmsburg erhofft.

Wilhelmsburg hatte stets mit seinen Kontrasten zu kämpfen. Auf der einen Seite bot sich das idyllische Bild einer vorindustriellen Zeit: Kaum berührte Landstriche, Windmühlen, weite Wiesen und Naturschutzgebiete. Andererseits, und dieses Bild verfestigte sich weit über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus, war Wilhelmsburg der Hinterhof der Metropole, Wohnort von Werftarbeitern und Einwanderern, das Viertel der „Kleinen Leute“, Hort der Verlierer und Gewaltdelikte. Ein Stadtteil, der bei all dem Hamburger Pomp und glitzernden Innenstadtfassaden vergessen worden war.

Das soll nun anders werden. Lange vernachlässigte Stadtteile wie die Veddel oder Wilhelmsburg sollen zu „besonders attraktiven“ Vierteln werden, die gerade durch die mögliche „Nutzung der Wasserfront und die Rekultivierung alter Hafen- und Industriegebiete“ für Investoren interessant seien. Vielmehr als das in diesem Zusammenhang oft zitierte Schanzenviertel scheint ein Viertel wie Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn diesen Ansatz inspiriert zu haben. Die phonetische Ähnlichkeit geht einher mit einer historischen: Das am East-River gelegene Williamsburg war einst ein klassisches Arbeiterviertel, vollzog in den letzten Jahrzehnten aber eine rapide Transformation von der Künstlerkolonie hin zum angesagten Wohnviertel.

Im Rathaus spricht man längst nicht mehr so gern über den Problemstadtteil Wilhelmsburg, viel lieber über die „Ressourcen der City-Veddel-Wilhelmsburg-Harburg-Achse“. Der einstige Brennpunkt soll Menschen anziehen, die dem Stadtteil neues Leben einhauchen können, er schickt sich an, zu einem Viertel für „High Potentials“ zu werden, für „Produktive“, für junge Familien und Studenten, für die Kaufkraft von heute und morgen.

„Tatsächlich berücksichtigen diese Pläne aber nur Alt-Wilhelmsburg“, sagt Thorsten Fellberg. Der Philosophiestudent lebt seit zwei Jahren in der Fährstraße im Reiherstiegviertel. Er ist im feinen Eppendorf groß geworden, doch seit vielen Jahren Wilhelmsburg verbunden. In Jugendjahren organisierte er hier Kinderfreizeiten und spielte im Tischtennisverein. Voriges Jahr heiratete er Elise, eine Ur-Wilhelmsburgerin.

Thorsten engagiert sich seit anderthalb Jahren beim Südbalkon, der Wilhelmsburger „Förderkoje für Kunst und Kultur“, einer Art Begegnungsstätte und selbst verwalteter Club für subkulturelle Ideen. Zusammen mit Freunden organisiert er hier Konzerte, Ausstellungen, Lesungen oder Parties jenseits der „Bluesnights“ in der Honigfabrik oder den Malefiztreffen im Bürgerhaus. Die Kultur, die für jungen Menschen attraktiv ist, müsse durch die Leute selbst entstehen, meint er. Eine Einrichtung wie die Honigfabrik, die momentan für über eine Million Euro saniert wird, bietet zwar Töpferkurse und Freizeitangebote für Kinder, doch sei viel zu wenig stadtteilorientiert – für die Südbalkon-Fraktion deshalb „völlig uninteressant“, sagt Thorsten.

Der Südbalkon sei hingegen, wie etwa auch die „Kapelle“ mit ihrem mainstreamfernen Programm der Kulturgruppe „Kubasta“, der Versuch, etwas anderes, Neues zu bieten, „einen angenehmem Kontrast zu den Eck- und Saufkneipen“, sagt Thorsten. Und sogar deren Stammkunden kämen seit einiger Zeit immer häufiger in den Südbalkon. „Durch ihren Bierkonsum bekommen wir unsere Mietkosten wieder rein“, lacht er.

Bislang kann der 30-Jährige in Wilhelmsburg aber nur marginale Veränderungen ausmachen: „Man merkt schon, dass die Bewohnerschaft etwas studentischer wird. Die meisten lassen sich halt durch das Förderprogramm anlocken, merken dann aber häufig, dass es hier zur Abendunterhaltung gar nichts gibt.“ Er macht die Entwicklung eher im Kleinen aus: Im Supermarkt gibt es neuerdings eine Bio-Ecke, erzählt er, und in der Veringstraße eine portugiesische Tapas-Bar.

Den Senatsplänen steht Thorsten mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Natürlich muss hier in Wilhelmsburg was passieren. Aber die Frage ist doch: Warum soll der Stadtteil plötzlich aufgehübscht werden? Doch nicht, weil man den langjährigen Bewohnern hier einen schöneren Lebensraum schaffen will.“

In Kirchdorf-Süd hat man diesen schöneren Lebensraum angeblich schon längst entworfen: Mit dem Slogan „Hier lässt sich’s leben“ wirbt die Hochhaussiedlung für sich. Unübersehbar sind die Anstrengungen, die unternommen wurden, das Gesicht von Kirchdorf-Süd zu verändern. Ein weitflächiger Marktplatz ist entstanden, ringsherum neu asphaltierte Wege, flankiert von Pflanzen, Skulpturen und Bänken.

Doch Kirchdorf-Süd bleibt Endstation, abgeschnitten, ohne Berührungspunkte zum Reiherstiegviertel. In der Hochhaussiedlung nicken die Jugendlichen zu Snoop-Dogg-Klingeltönen, werfen Basketbälle in Körbe oder treffen sich zum Billardspielen. Die Welt von Frank und Zoe endet hinterm Jugendhaus, siebzehn Minuten entfernt von Alt-Wilhelmsburg. Siebzehn Minuten, doch so weit entfernt wie eine andere Welt.