Besser kein Ballbesitz?

Nach der WM-Vorrunde und dem Ausscheiden von Weltmeister Spanien pfeifen es die Spatzenhirne von den Dächern: Ballbesitzfußball is over.

Ist er nicht. Kann er gar nicht sein, denn ohne Ballbesitz gibt es keinen Fußball. Guardiolas Ballbesitzmaschine FC Bayern hat so viele Umschalttore wie nie erzielt. Jürgen Klopps Pressingmonster Borussia Dortmund kontrolliert oft das Spiel auch per Ballbesitz. Die entscheidende Frage dieser WM ist nicht: Ballbesitz oder Tempokonter? Sondern: Wer hat die Flexibilität und die Variationsbreite, um gegen den entsprechenden Gegner bei bestimmtem Wetter die richtige Folge von Spielvarianten zu wählen und durchzusetzen?

Weltmeistertrainer Vicente del Bosque hat ja gerade nicht am kategorischen Ballbesitz der letzten Jahre festgehalten, sondern Spaniens Stil mit dem kopfballstarken Keilstürmer Diego Costa weiterentwickeln wollen. Das frühe Aus dürfte eher darauf zurückzuführen sein, dass das eben kein Fortschritt war und Spanien die nötige Flexibilität fehlte. Auch Vizeeuropameister Italien scheiterte nicht am Ballbesitz oder an Pirlos Alter, sondern durch die eigene Begrenzung auf Pirlo. Nicht der Ballbesitz scheitert, sondern der alte Stiefel, das ist evident bei Portugal (und England).

Dass heutzutage die meisten Tore aus Umschaltaktionen und Standards entstehen, ist übrigens kein Geheimwissen, das Ballbesitzteams erst jetzt mitbekommen. Darauf beruht sowohl Guardiola- als auch Klopp-Fußball. Die Frage ist, wie und wo man am besten umschaltet. Eine Antwort sind die Abschaffung des Mittelstürmers und die Abschaffung der Flügel. Louis van Gaal lässt die Niederlande mit zwei Halbstürmern, ohne einen Keil wie Huntelaar und ohne die traditionell vorgeschriebenen Flügel agieren. Das verleiht der Abwehr Stabilität und bringt van Persie und Robben besser in Stellung. Während die Kahn- und Bild-Fraktion noch den Verlust des alten Wertes Mittelstürmer beklagt, ist bei van Gaal und anderswo bereits die Neuneinhalb obsolet. Dagegen ist sogar Joachim Löw mit seiner Abschaffung von Neun und Zehn ein Traditionalist. Luiz Felipe Scolaris Insistieren auf dem Mittelstürmer Fred – und einem Spielmacher dahinter – wirkt schon wie ein alter Bart. Und mit Bartbesitzfußball ist wirklich nichts mehr zu gewinnen. PETER UNFRIED