Weg mit der Schildkröte

ARCHITEKTUR In Prag sind seit der Wende Hunderte sozialistische Skulpturen verschwunden. Nun wird um einen Granitbrunnen gekämpft

AUS PRAG MARTIN NEJEZCHLEBA

Über dem Vereinten Europa braut sich ein Gewitter zusammen. „Vereintes Europa“, das ist der Name eines Prager Springbrunnens, der in einer Zeit gebaut wurde, an die sich die Tschechen nur ungern erinnern. Der Brunnen stammt aus den achtziger Jahren, ist aus Granit und sieht aus wie ein grauer Schildkrötenpanzer, den jemand in der Mitte auseinandergesägt und dann wild drauf los geschnitzt hat. Er wird dem Stil des Brutalismus zugeordnet – und er soll verschwinden.

Matej Stropnicky, grüner Vizebürgermeister im dritten Stadtbezirk, steht auf dem Schildkrötenpanzer. Der Wind zerzaust seine schwarze Mähne, vor seinen stoppeligen Oberlippenbart hält er ein Megafon. „Jemand möchte unser Vereintes Europa zerstören“, scheppert es über den weitläufigen Platz. Der Ortsverband seiner Partei und eine Bürgerinitiative kämpfen für den Erhalt des Brunnens. Heute soll ihn eine Menschenkette schützen.

Sozialistischer Realismus

In der kommunistischen Tschechoslowakei sorgte ein Gesetz dafür, dass bis zu vier Prozent der Ausgaben für staatliche Bauprojekte der künstlerischen Ausgestaltung reserviert waren. Da sich nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im Jahr 1968 viele Künstler politischen Themen verweigerten, entstand eine einzigartige Mischung aus sozialistischem Realismus und abstrakter Kunst.

Vor Plattenbauten kauern traurige Mädchenakte, sprießen surreale Steinskulpturen, die an menschenfressende Pflanzen aus den apokalyptischen Romanen von John Wyndham erinnern. Aus riesigen Eiern pellen sich abstrakte Formen, Wasservögel schwärmen aus. Der Künstler Pavel Karous kartiert mit seinem Projekt „Aliens und Reiher“ („Vetrelci a volavky“) die Kunstwerke, die während der Normalisierung, also nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, entstanden sind. 1.800 Plastiken hat er alleine in der Hauptstadt gezählt, mindestens 450 davon sind seit der Wende verschwunden. Karous hat eine Taxonomie für die Skulpturen entwickelt, er nennt sie „Schlüsselkinder“, „Triffids“ oder eben „Aliens“ und „Reiher“. Der Brunnen „Vereintes Europa“ passt aber in keine seiner Kategorien.

Karous trägt ein graues Tweedsakko, darüber einen rot-weiß karierten Kragen. In den grau melierten Haaren kleben Farbreste, gelb und rot. Genauso wie an seinen Fingern, mit denen er die Form des Brunnens nachzeichnet. „Der Künstler hat Europa geteilt, so wie es damals nun einmal war“, sagt er. Die ganze Skulptur aber bildet eine Einheit, das Wasser, das in vier Strahlen aus der Mitte der Plastik sprudelt, sammelt sich in einem Becken. Sammelte. Heute ist das Becken, bis auf eine grüne Pfütze, trocken und moosig.

Die Schildkröte entstand bei dem Bau einer U-Bahnstation. Als Thema gaben die Bauherren den ersten gewählten König Böhmens und Namenspatron des Platzes, Georg von Podiebrad, vor – und seine Vision von einer „Allgemeinen Friedensorganisation“ aus dem Jahre 1462, einer Art Föderation der europäischen Königreiche. Von sozialistischer Propaganda keine Spur. Der Brunnen wurde 1981 eingeweiht, zusammen mit einem fünf Meter hohen, brutalistischen Lüftungsturm. Er bricht unvermittelt aus dem Platz hervor und erinnert mit seinen Metallstreben an einen Ritterhelm. Beides, „Schildkröte“ und Helm, sollen nun abgerissen und der Platz soll Anfang kommenden Jahres „revitalisiert“ werden. Prag möchte ihn zu seiner nächsten Unesco-Stätte machen.

In der Sonnenbrille von Lokalpolitiker Stropnicky – Typ Pilotenbrille mit hellblauem Rand – spiegelt sich die Dominante des Platzes wieder: die monumentale Herz-Jesu-Kirche. Mit der riesigen verglasten Turmuhr und dem weißen Dreiecksgiebel wirkt sie wie eine Mischung aus Bahnhof und antikem Tempel. Sie stammt aus Zeiten, an die sich die Tschechen gerne erinnern. Der Slowene Joze Plecnik, Hofarchitekt des „Väterchens der Nation“, des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomas G. Masaryk, entwarf die Kirche. Stropnickys konservative Koalitionspartner im Rathaus meinen, der Platz müsse von den störenden Elementen gesäubert werden. „Sozialistischer Brutalismus“, das entspräche nicht der Vision, die Plecnik für den Platz gehabt habe.

„Das Argument, der Brunnen sei sozialistisch, ist an den Haaren herbeigezogen. Es sind 25 Jahre seit der Samtenen Revolution, warum können wir die Dinge verdammt noch mal nicht mit ein bisschen Abstand betrachten!“, regt sich Karous auf. Gegen seinen Willen sei er vom Künstler zum Kunsthistoriker geworden, sonst würde sich im Land keiner für Skulpturen aus der Zeit des Sozialismus interessieren. Das stimmt nicht ganz, denn bis Januar widmete ein bedeutendes Museum für Moderne Kunst seinen „Aliens und Reihern“ eine Ausstellung.

Der Umbau des Platzes und der Abbau der Europa-Schildkröte wurden bereits 2002 im Rathaus abgesegnet. Kostenpunkt etwa 3,2 Millionen Euro. Dann schwemmte das Jahrhunderthochwasser aber die städtischen Kassen leer. Als Stropnicky ins Rathaus kam, ließ er das Bauprojekt überprüfen, strich erst die überteuerte Tiefgarage und machte sich dann für den Brunnen stark. „Eine Stadt entsteht in Etappen, warum sollten wir manche Bauten und Kunstwerke ausradieren, nur weil sie aus der Zeit vor 1989 stammen?“, sagt er. Es entstand eine Petition, und das Amt für Denkmalschutz empfiehlt, den Brunnen zu bewahren. Die Bürgermeisterin möchte ihn nun umsiedeln.

Stropnicky vergleicht das Vorhaben mit den kommunistischen Stadtplanern, die erst alles abrissen und dann ihre Vorstellung von der idealen Stadt betonierten. Der 30-Jährige ist eine umstrittene Figur bei den tschechischen Grünen. Manche seiner Parteikollegen nennen ihn „roter Lump“. Dabei stammt er aus gutem Haus, Sohn einer Diplomatenfamilie, der Vater ist heute Verteidigungsminister. Eine grüne Kollegin Stropnickys im Stadtbezirk beklagt, er stelle seine eigenen Visionen höher als demokratische Prinzipien. Mit dem Verschwinden des Lüftungsturms hat sich Stropnicky abgefunden. „Aber den Brunnen geben wir nicht auf.“

Hässlich kommunistisch

Für sein Happening am Brunnen „Vereintes Europa“ konnte Stropnicky auch die Brüsseler Grünen-Abgeordnete Ska Keller nach Prag locken. Europa schützen die Grünen notfalls mit den eigenen Leibern – das wollen sie heute demonstrieren. Sie bilden die Menschenkette rund um den Brunnen. Beethovens Neunte ertönt, Keller lächelt.

Marek Prochazka hat derweil andere Sorgen. Seine kleine Tochter ist unter der Menschenkette hindurchgeschlüpft und krallt sich am nassen Granitblock fest. Prochazka – kurze rote Haare und Jogginghose – packt seine Tochter an der Kapuze. Sie sind auf dem Weg zum Gemüsemarkt auf der anderen Seite des Platzes. Den Springbrunnen findet er hässlich, typisch kommunistisch. „Diese graue Fläche drum herum, von den Laufwegen ist der Brunnen abgeschnitten, das ist nicht für Menschen gemacht“, sagt er. Abreißen würde er das „Vereinte Europa“ aber nicht, seine Kinder mögen das Wasser. „Man könnte das ein wenig umbauen und sich damit arrangieren“, sagt Prochazka. Bis derartiger Pragmatismus beim Umgang der Tschechen mit ihrer kommunistischen Vergangenheit vorherrscht, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen. Zu sehr ist die heutige politische und gesellschaftliche Elite mit der Zeit der Normalisierung verwoben. Erinnerungen an das totalitäre System und daran, wie man sich selbst in ihm eingerichtet hat, würden viele gerne ausblenden oder – wie im Fall „Vereintes Europa“ – abreißen.

Als die Europahymne abklingt, schütten sich Gewitterwolken über dem Brunnen aus. Zwei Herren, die die ganze Zeit über aufgeregt gestikulierten, stürmen auf Stropnicky zu. Sie bezichtigen ihn „totalitärer Methoden“, weil er ihnen in ein Sozialprojekt hineinredet. Ska Keller rennt zum nächsten Termin. Und Prochazkas Tochter ruft aufgeregt nach ihrem Papa. Sie hat den Brunnen erklommen.