AUF DEM FRIEDHOF
: Der Sonne entgegen

Es ist ihnen auf eine nicht mehr steigerbare Weise egal

Erstaunlich, dass ich das Grab auf Anhieb finde. Ich bin höchstens drei Mal auf diesem Friedhof am Rande Charlottenburgs gewesen, das letzte Mal muss fast 15 Jahre her sein. In einer Urnenreihe hinten rechts liegt A. unter einem kleinen Buchsbaum. „Du lebst in uns“ haben sie ihm auf den Stein graviert.

Wir hatten uns in den 80ern im Internat kennengelernt. A. war wegen einer Psychotherapie nach Westdeutschland gezogen, er war manisch-depressiv und ein großartiger Zeichner. Sein großer Bruder M. spielte in einer Westberliner Funpunk-Band, in der auch Bela B. mal getrommelt hat. 1991 zog ich zum Studium nach Berlin und freute mich riesig, A. regelmäßig zu sehen. Aber da war er schon tot. Das Auto mit dem Schlauch am Auspuff stand auf einem Waldparkplatz, ich glaube, im Tegeler Forst.

Dass ich so lange nicht hier gewesen bin, liegt nicht daran, dass ich Friedhöfe meide. Ich glaube nur nicht, dass die Toten besonderen Wert darauf legen, besucht zu werden. Ich denke sogar, es ist ihnen auf eine nicht mehr steigerbare Weise egal. Aber heute bin ich zufällig in der Gegend gewesen, und außerdem liegt auch M. seit ein paar Monaten hier. Er hat sich Anfang des Jahres vor die U-Bahn geworfen.

Ich muss den Abstecher nicht bereuen. Es ist ein heißer Tag, aber der schattige alte Teil des Friedhofs, der hinter dem Urnenfeld beginnt, ist voller Vogelstimmen. Ich denke ein bisschen an A. und meine Besuche im Haus seiner Eltern in Frohnau. Reinhard Mey wohnte gleich um die Ecke. Der Friedhofsgärtner sieht dagegen aus wie Chuck Norris mit Latzhose.

Und dann entdecke ich an einem der alten Mausoleen, die die Friedhofsgrenze bilden, den besten Grabspruch aller Zeiten. Das Monument aus schwarzem Marmor ist ziemlich ramponiert und die Namen der Toten fehlen völlig. Aber oben steht in verwitterten goldenen Lettern: „Der Sonne entgegen!“ CLAUDIUS PRÖSSER