portrait
: Opfer, Idol und Frau des Jahres 2006

In Österreich war es ein Straßenfeger aus der Mondlandungsliga: Als das erste Interview mit Natascha Kampusch über die Sender lief, waren die Straßen menschenleer. Doch auch global setzte sich binnen Stunden eine beeindruckende Medienmaschinerie in Gang. RTL hatte die Rechte erworben, zeitgleich mit dem ORF zu übertragen, andere TV-Anstalten durften für hohe Lizenzgebühren zeitversetzt senden. Gleichzeitig kamen zwei Interviews der Boulevardgazetten Kronen Zeitung und News auf den Markt, die von der WAZ weltweit vertrieben wurden. Die Deals wurden drei Wochen nach der spektakulären Flucht der 18-Jährigen aus dem Verlies, in dem sie acht Jahre festgehalten worden war, von ihrem Beraterstab penibel ausgehandelt. Die Einnahmen sollen ihr den Start ins Erwachsenenleben ermöglichen sowie karitativen Zwecken zugute kommen.

Schnell kamen die Jeremiaden: Hier wird mit dem Leid eines Entführungsopfers ein Geschäft gemacht. Oder: Kampusch muss sich der Medienmeute stellen, um von ihr nicht ewig gejagt zu werden. Nicht ganz falsch, doch trifft das nicht den Kern. Schließlich ist das Faszinierende an dieser Frau, dass sie nicht als Opfer wahrgenommen werden will. Jahrelang war sie in der Gewalt eines Psychopathen, der sie in einem Keller festhielt und sich offenbar eine Frau „erziehen“ wollte – ohne dass ihr Widerstand brach. Und so wollte sie auch in Freiheit die Hoheit über „ihre“ Geschichte bewahren.

So wurde die Wienerin schnell ein Idol: eine, die sich so gewählt ausdrücken kann wie kaum eine ihrer Generation, obwohl sie nie in eine Schule ging, sondern nur Bücher und Qualitätsradio zur Verfügung hatte. Was ist nur mit unseren Schulen los?, wurde prompt gefragt. Fehlte nur, dass nicht überlegt wurde, alle Zehnjährigen mit Büchern und Radio einzusperren. Das krause Fachblatt Deutsche Sprachwelt hat Kampusch zur „Sprachwahrerin des Jahres“ nominiert – allerdings auch das Kundenblatt der Firma Rossmann, weil das keine Anglizismen druckt.

Trotz des Hypes ist der Fall Kampusch interessant und verstörend. Er sagt uns etwas über die conditio humana: wie robust Menschen in Extremsituationen sind; wie viel selbst zehnjährige Kinder auszuhalten imstande sind, ohne dass ihr Freiheitswille bricht; dass Menschen, auch in Situationen totalen Ausgeliefertseins, erstaunliche Ressourcen für Autonomie zur Verfügung haben.

Freilich, auch das Publikum liebt solche Geschichten, das Trugbild, man könne unbeschadet aus einem solchen Drama hervorgehen. Natascha Kampuschs schwere Traumatisierungen werden dabei nur zu gerne übersehen.

ROBERT MISIK