Die lange Nacht der Göttin

Silvester an der Copacabana: In der Dämmerstunde beginnt für zwei Millionen Menschen die Open-Air-Party am Strand von Rio. An Yemanjás Festtag werden Altäre in den Sandstrand gebaut. Ein bisschen Aberglaube und üppige Festtafeln mit Opfergaben für die Göttin sollen diese gnädig stimmen

Von EVA VON STEINBURG

Alle wollen ans Meer – um die Zukunft zu befragen. Maria, die dunkle Mulattin von der Supermarktkasse, hat bei den Straßenhändlern von Rio Gladiolen besorgt. Sie wird die Blumen in der Silvesternacht am Strand von Copacabana dem Ozean opfern: Schlucken die Wellen die Stängel, geht ihr Wunsch für das nächste Jahr in Erfüllung. Werfen die Wellen jedoch die Blumen zurück an den Strand, weist die Göttin des Meeres ihre Bitte zurück – das ist brasilianischer Aberglaube und Silvesterbrauch in Rio de Janeiro.

An der Copacabana, dem berühmtesten Strand Brasiliens, wo sich sonst milchkaffeebraune Körper in der Sonne aalen, liegt am letzten Tag des Jahres eine andächtige Stimmung in der Luft. Der über vier Kilometer lange Strand, breit wie ein Fußballfeld, ist das Zentrum der Silvesterrituale. Am späten Nachmittag des 31. Dezember strömen Tausende weiß gekleideter Menschen ans Meer – die Menge gleicht einer Festtagsprozession. Schneeweißes Leinen leuchtet auf brauner Haut.

Bevor in der Dämmerstunde für zwei Millionen Menschen die Open-Air-Party am Strand beginnt, wird in Rio dem Schicksal gedankt. Die Cariocas, die Einwohner der Stadt, meditieren im Sand. Jeder ist in der Farbe der Unschuld, der Reinheit und des Friedens gekleidet. Denn weiß ist die Farbe der Meeresgöttin „Yemanjá“, die Silvester vor allem von Frauen und Mädchen aus ärmeren Kreisen um Beistand ersucht wird.

Die schöne Göttin der afrobrasilianischen Candomblé-Religion trägt auf Bildern und in Gips ein langes blaues Gewand, wie die Jungfrau Maria. Doch Yemanjás Attribute sind eitlerer Natur: Kamm und Spiegel, Rosen und Parfüm zieren sie. An Yemanjás Festtag bauen die „Kinder“ der Göttin, als die sich viele Brasilianer fühlen, Altäre in den Sandstrand: Es sind üppige Festtafeln mit Opfergaben: Trauben, Sekt und Kokosmilch, Zigaretten und ein Damenschuh. „Alles, was einer Frau Vergnügen bereitet, stimmt auch die Göttin milde“, erklärt die Verkäuferin Maria, die in Rio drei Kinder alleine großzieht.

Maria gräbt mit den Händen ein Loch in den Sand und zündet darin farbige Kerzen an: Sie bringen die Erfüllung dringender Wünsche. „Blaue brennen für Gesundheit im neuen Jahr. Rote Kerzen bringen Glück in der Liebe. Die weißen sind meine Bitte um mehr Frieden auf der Welt“, erklärt sie sanft. Danach bohrt sie einen Packen gelber Kerzen in den Sand: „Gelb zieht das Geld an“, erklärt Maria schüchtern. Beim näheren Hinsehen brennen in der Silvesternacht auffallend viele honigfarbene Kerzen im Sand der Copacabana.

Das Farbenritual ist in Brasilien so weit verbreitet, dass den Geschäften am letzten Tag des Jahres die bunten Kerzen ausgehen. Doch das ist nicht weiter tragisch: Mit der Wahl der richtigen Unterwäsche können die Brasilianer der Göttin und dem Universum ihre Wünsche für das nächste Jahr ebenso mitteilen. Wer in der Silvesternacht ein rotes Höschen trägt, hofft darauf, endlich der großen Liebe zu begegnen, wer sich für ein blütenweißes entscheidet, sehnt sich nach Ruhe und Harmonie.

Im Licht der untergehenden Sonne rüstet sich der Strand von Copacabana für die größte Open-Air-Party der Welt. Auf den drei Freiluftbühnen beginnt der Soundcheck. Es knistert aus riesengroßen Boxen. Wechselnde Bands spielen die ganze Silvesternacht über Samba, Reggae und „música popular brasileira“, bei der das Publikum selbstvergessen die Texte mitsingt. Der Rhythmus reißt alle mit. Die Menschen tanzen barfuß im Sand und drängeln sich um die Caipirinha-Stände an der Uferstraße. Eine Brise vom Meer kühlt die wogende Menge – die tropische Nacht hat immer noch 36 Grad. Und um Mitternacht explodiert ein 20-minütiges Feuerwerk über dem elegant geschwungenen Strand. Das „Ano Novo“ bringt Freude und Verzauberung – wie überall auf der Welt. Doch in Rio de Janeiro blicken sich Unbekannte besonders lange in die Augen. Silvester ist die Nacht der Verbrüderung. „Wir sind ein sehr friedliebendes und spirituelles Volk“, sagt Flavio, der Jura studiert, und prostet einer Gruppe Touristen aus Australien zu: „Die ganze Welt ist heute eine große Familie“. In den Nachrichten heißt es später, dass die Polizei Silvester in der 9-Millionen-Metropole nur eine Hand voll Straftaten registriert hat – die Volksfrömmigkeit hat über das alltägliche Chaos gesiegt.

Die Zeremonien der „heiligen Frauen“ sind die Krönung des Silvesterkults. Mitten in der Party kehrt ein Moment der Stille ein. In weiße Spitze gehüllt, tanzen die Candomblé-Priesterinnen mit monotonem Gesang die Uferpromenade „Avenida Atlântica“ entlang. Die Prozession dreht Richtung Meer und lässt Boote ins Wasser, beladen mit Blumen und Geschenken. Die Menge der Feiernden sieht gebannt zu. Denn jeder fühlt, wie in der letzten Nacht des Jahres alles in einem großen Kreislauf von Geben und Nehmen verschmilzt.

Der geschwungene Strand der Copacabana bietet Platz für jeden. Großfamilien haben sich Strandstühle zu einem Kreis aufgestellt. Sie trinken Saft und Bier und knabbern an Maiskolben und knusprigen Shrimps-Spießen, die fliegende Händler verkaufen. Bis zum Morgen spielt eine junge Hippie-Clique am Meer Gitarre und singt. Arme, Reiche, Rios berühmte Transvestiten und andere schräge Vögel sind hier in der Silvesternacht harmonisch vereint.

Bei Sonnenaufgang schieben kleine Bagger welke Blumen und die Reste der Tafeln für die Meeresgöttin zusammen. Bei über 30 Grad im Schatten ist die Badesaison eröffnet, obwohl viele am 1. Januar das Meer meiden – das Wasser ist noch aufgeladen, voller spiritueller Energien“, sagt Bianca. Das Mädchen mit dem glatten schwarzen Haar hat die Nacht durchgetanzt. Jetzt will sie auf einem Strandtuch ausschlafen. An einem Kiosk an der Promenade lässt sie sich eine grüne Kokosnuss aufschlagen und saugt mit dem Strohhalm das kühle Wasser heraus – die bewährte brasilianische Naturmedizin gegen den Silvesterkater. Das neue Jahr konnte nicht besser begonnen haben.