berliner szenen Am Weisheitszahn

Zurück auf Track eins

Die Assistentin sagte, dass der Herr Doktor gleich komme. Von der Wirkung der Spritzen bemerkte er noch nichts. Mit gespielter Lässigkeit blickte er nach links. An der Wand hing eine gerahmte Draufsicht der Golden Gate Bridge. Er fragte sich, warum man sich gerade für dieses Motiv entschieden hatte.

„So, dann wollen wir mal!“, posaunte der hereinkommende Zahnarzt. Er kippte den Stuhl, bis der Patient kopfüber unter ihm hing. „Tut das noch weh?“, fragte der Doktor, während er mit einem spitzen Gegenstand im Zahnfleisch pulte.

Eine klare Antwort zu geben war unmöglich. Aus den Augenwinkeln sah der Arzt plötzlich aus wie Walter Momper. Es lief eine dieser Blubber-CDs, die beruhigend wirken sollen, auf jeden denkenden Menschen aber den gegenteiligen Effekt haben. Der Doktor porkelte jetzt immer tiefer in seinem Rachen herum, als es vom Kieferknochen her zu knistern und zu ächzen begann. Dann wurde das Geräusch zu einem lauten Krachen in seinem Kopf. „Das ist aber ein langes Ding!“, fluchte der Arzt, während er den Weisheitszahn bearbeitete. Die Musik hatte glücklicherweise ausgesetzt, und der Patient nutzte die plötzliche Stille, um an die letzte Party im Festsaal Kreuzberg zu denken. Da hatte er die Autorin Tanja Dückers kennen gelernt, die sich sofort Sorgen über seinen Alkoholkonsum gemacht hatte: „Das ist ja schon das dritte Hefe!“

„Schwester“, riss ihn der Doktor aus seinen Gedanken, „schalten Sie die CD doch bitte wieder auf Track eins!“ Und schon knirschte es weiter.

Am Landwehrkanal schwebte er später wie auf einer Wolke nach Hause. Auf seinem iPod lief „Comfortably Numb“. Er summte mit. Nur grinsen konnte er noch nicht. JAN SÜSELBECK