Spektakel im Streik

KULTURPOLITIK In Frankreich bangen temporär in der Kultur Arbeitende um ihre Existenz. Sie drohen, das renommierte Festival von Avignon ins Wasser fallen zu lassen

Die Streikdrohung ist ein Politikum erster Rangordnung

VON RUDOLF BALMER

Am 4. Juli beginnt das weltbekannte Theaterfestival von Avignon. Oder auch nicht: Die temporär arbeitenden Techniker, Toningenieure, Bühnenarbeiter, Schauspieler, Musiker und all die meist anonymen HelferInnen, ohne die auf der Bühne gar nichts läuft, kämpfen seit Wochen für die Verteidigung ihrer Arbeitslosenkasse und vor allem gegen eine drastische Verschlechterung der finanziellen Entschädigungen. Da ihre Anstellungsverhältnisse von Job zu Job schon immer besonders prekär waren, verfügen sie in Frankreich über bessere Leistungen als andere Arbeitnehmer. Das sichert oft ihre Existenz und ermöglicht es den meisten unter ihnen, trotz unregelmäßiger Aufträge und Einsätze in ihrem kreativen „Traumberuf“ zu bleiben. Und davon profitiert das ganze Kulturschaffen in Frankreich.

Das hat seinen Preis: Die rund 253.000 „Intermittents du spectacle“, wie die Beschäftigten ohne feste Anstellungsverträge im Ballett-, Show- und Theaterbetrieb sowie in der Musik- und Filmproduktion heißen, beziehen pro Jahr viermal mehr (1,3 Milliarden), als sie dafür an Beiträgen an ihre (von den Sozialpartnern paritätisch verwalteten) Versicherung zahlen. Das schafft Neid und Missgunst. Warum soll über den Umweg der Arbeitslosenversicherung die Kultur gefördert werden, fragen auch manche Organisationen, die Arbeitnehmerinteressen vertreten. Seit Jahren zirkulieren böse Gerüchte über hochbezahlte Stars aus Film und Musik, die zwischen zwei Gagen „stempeln gehen“ und skrupellos astronomisch viel Arbeitslosengeld kassieren. In Wirklichkeit sind diese Leistungen durch eine Höchstgrenze bereits limitiert. Jetzt aber soll eine von den Sozialpartnern ausgehandelte Regelung die Leistungen mit einer längeren Wartezeit (Karenzzeit) am 1. Juli verschlechtern. Und dagegen laufen die Betroffenen seit Wochen Sturm.

Bereits sind einige bedeutende Kulturveranstaltungen, wie der Printemps des Comédiens in Montpellier oder das Tanz-Festival von Uzès sowie Konzerte in Sète und Nantes, wegen der Streik- und Boykottaktionen ausgefallen. Schlimmstenfalls könnte wie schon 2003, als bereits gegen eine Verschlechterung der Arbeitslosenversicherung der „Intermittents“ gestreikt wurde, praktisch der ganze Veranstaltungskalender der kommenden Urlaubsmonate mit rund 4.000 Festivals in ganz Frankreich ins Wasser fallen.

Avignon aber ist das „Flaggschiff“ des französischen Festivalsommers. Nichts eignet sich besser, um Druck zu machen. Da geht es nicht nur um das Renommee des internationalen Theatertreffens, sondern auch um bedeutende Einnahmen der Tourismuswirtschaft. Bereits klagen im Fernsehen Hotel- und Restaurantbesitzer, sie würden wegen der Boykottdrohung mit geringeren Umsätzen rechnen und darum vorsorglich weniger Hilfskräfte einstellen.

Allein schon die Aussicht, dass das Festival von Avignon nicht beginnen kann oder überhaupt abgesagt werden muss, macht die Streikdrohung zu einem Politikum erster Rangordnung. Für die regierenden Sozialisten ist dieser Konflikt besonders heikel. Diese Kulturschaffenden stehen in Frankreich traditionell politisch klar links, und viele haben die Wahl von Präsident François Hollande unterstützt. Da bisher mehrere Vermittlungsversuche eines unabhängigen Schlichters und alles Bitten und Drohen der Kulturministerin Aurélie Filippetti nicht gefruchtet haben, hat sich Premierminister Manuel Valls eingeschaltet.

Er macht geltend, nicht die Regierung sei verantwortlich für die neuen Bestimmungen für die Entschädigung der „Intermittents“, sondern die Sozialpartner. Und er betont, dass er sich nicht dem „Ergebnis des sozialen Dialogs“ widersetzen könne. Um Zeit zu gewinnen und wenn möglich die Festivals zu retten, schlägt Valls vor, dass der Staat aus seinen Mitteln den Geschädigten die finanziellen Ausfälle vergüten könnte.

Den Streikenden aber geht es nicht (nur) ums Geld, sondern ums Prinzip. Darum hält der CGT-Gewerkschaftsverband der Kultur den Appell zum Streik in Avignon aufrecht. Profitieren würde indirekt von der Annullierung der offiziellen Veranstaltungen das „Off-Festival“ – sofern deren Theaterschaffende nicht aus Solidarität ebenfalls einen Bogen um den wichtigsten Markt der Bühnenkunst machen.

Vorerst besetzen die streikenden und demonstrierenden Kulturleute mit professionellem Geschick die Straße als Bühne ihrer Aktionen. Es ist ihnen gelungen, die Dramatik auf den Höhepunkt zu steigern. Dabei wird viel improvisiert und niemand weiß, ob der Konflikt als Trauerspiel für den französischen Kulturbetrieb endet oder ob nicht doch noch dem Publikum wie in Brechts Dreigroschenoper vom „reitenden Boten des Königs“ (Hollande) ein unvermutetes Happy End angekündigt wird.