berliner szenen Unterwegs mit Opa

Die Taube

„Das ist doch unerhört. Geradezu unerhört ist das.“ Wer mault denn da schon wieder, dachte ich und blickte auf die andere Straßenseite rüber, von der die Stimme kam. Ein graubärtiger Großvater führte seinen blaubemützten Enkel an der Hand spazieren. Der alte Mann musste sich bücken, um seinem kurzen Nachkommen nicht den Arm auszukugeln, vielleicht aber hatte er sowieso einen krummen Rücken. Welch ein generationenübergreifendes Wilmersdorfer Idyll, dachte ich zunächst.

Doch irgendwas irritierte mich. Und schnell wurde klar: Nicht der alte Mann war es, der sich lautstark beschwerte. Es war das Kind, gerade eben so im sprechfähigen Alter. Was fand es nur so unerhört? War der Großvater wieder einmal zu spät zum Abholen in der Kita erschienen? Hatte dort vielleicht jemand seinen Stamm-Kleiderhaken mit dem Maus-Aufkleber weggeschnappt? Oder hatte beim Frühstück eines der vielen Doppelvornamen-Kinder von Doppelnachnamen-Müttern seine Apfelschnitze geklaut? Ich fragte nicht nach.

Das Kind war sehr erbost. Es schüttelte seinen Kopf und der Bommel seiner Mütze flog durch die Luft. Für einen kurzen Moment glaubte ich sogar, die freie Hand, die nicht in der des Großvaters steckte, wild gestikulieren zu sehen. „Unerhört“, sagte das Kind wieder. Der Großvater brummte „Ja, ja“ und kratzte sich am Bart.

Da deutete das Kind auf einmal auf einen schmutzig-weißen Vogel vor sich auf dem Bürgersteig: „Opa“, rief es so aufgeregt, wie es sich gehört: „Opa, eine Traube! Eine Traube!“ Der Großvater nickte wieder. „Ja, ja.“ Als der Kleine nach dem Vogel griff, breitete dieser seine Flügel aus und flog mir in den Weg. Unerhört. LENA HACH