Auf den Spuren des Erasmus

Ein Spanier und eine Estin studieren dank des Austauschprogramms Erasmus an europäischen Unis – und machen in Berlin ganz unterschiedliche Erfahrungen. Damit könnte es aber bald vorbei sein

von SEBASTIAN KRETZ

Erasmus von Rotterdam wurde 1466 in den Niederlanden geboren und ist der Prototyp des flexiblen Hochqualifizierten – so wie ihn der Arbeitsmarkt heute fordert. Erasmus studierte Philosophie und Hebräisch in Paris, während eines Auslandsjahrs in England schloss er Freundschaft mit dem Jurastudenten Thomas Morus, der später Diplomat wurde und die „Utopia“ verfasste. Erasmus promovierte in Turin und arbeitete im reformierten Basel, später im katholischen Freiburg.

Victor Sancho Cuerva wurde 1983 in Spanien geboren und folgt den Fußstapfen des großen europäischen Humanisten. Er studiert Technischen Umweltschutz in Barcelona und ging nach der Zwischenprüfung für ein Jahr nach Mailand. Jetzt ist er nach Berlin gekommen, um an der TU seine Diplomarbeit zu schreiben. „Erasmus“ heißt das Programm, das ihm den Austausch ermöglicht.

Seit beinahe 20 Jahren gehen junge Europäer wie Sancho Cuerva mit einem Erasmus-Stipendium ins Ausland. Dabei sparen sich die Teilnehmer Bewerbung und Studiengebühren an ihrer Gastuni. Dafür dürfen sie höchstens zwei Semester bleiben.

Der 23-jährige Spanier hat sich entschieden, seine Abschlussarbeit in Deutschland zu schreiben, „weil es das größte europäische Land ist und viele Arbeitsplätze im Umweltschutz bietet“. Wegen einer Sonderregel seiner Heimatuni kann er das Programm nach den zwei Semestern in Italien ein zweites Mal nutzen.

„Ich reise gern und möchte andere Kulturen kennen lernen. Mir ist es wichtig, die Sprache zu beherrschen und Deutsche kennen zu lernen“, sagt er. Das ist gar nicht so einfach. Anders als Erasmus von Rotterdam, dessen adlige Freunde ihn allerorten in die Gesellschaft einführten, bleiben die ausländischen Studierenden oft unter sich. Um das zu vermeiden, wohnt Sancho Cuerva nicht im Studentenwohnheim, sondern in einer Kreuzberger WG.

Berlin fasziniert den Spanier: Er liebe „die Mischung aus Technologie und Zerstörung“. Hier entwickele sich eine lebendige Untergrundkultur. Es wäre schade, wenn Erasmus-Studierende wegen strengerer Auflagen künftig nur noch wenig Freizeit hätten, sagt Sancho Cuerva. „Der kulturelle Austausch ist ein grundlegender Teil des Erasmus-Programms.“

Tuuli Reissaar stammt aus dem anderen Ende des vereinten Europas – aus Estland. Auch sie zieht nach dem Vorbild des Kosmopoliten Erasmus von Land zu Land. Reissaar schrieb sich in London für „European Studies“ ein. Jetzt ist die 21-Jährige für ein Jahr nach Berlin gekommen, um an der HU Politik und Deutsch zu studieren. Auch für sie sind die Scheine nicht das Wichtigste: „Ich mag Deutschland und wollte unbedingt die Sprache lernen“, erklärt Reissaar ihre Entscheidung für ein Erasmus-Jahr. Dass sie nach Berlin kommen würde, habe von Anfang an festgestanden. „Wer vorher in London studiert hat, will nicht in einer Kleinstadt leben“, erklärt Reissaar.

Dem Kulturschock Kleinstadt entgangen, sah die Politikstudentin sich gleich dem nächsten gegenüber: „Der Lehrplan hier ist ganz anders als in England. Dort ist genau vorgeschrieben, welche Module ich wann machen muss.“ In Deutschland sei sie bei der Wahl ihrer Kurse auf sich selbst gestellt, auch beim Service hätten die Deutschen noch einiges nachzuholen: „Die Studienberater sind unfreundlich und die Sprechstunden überfüllt.“ In England würden die Dozenten sich besser um ihre Studierenden kümmern.

Den Unterschied zu seinem Heimatland bemerkt auch der Spanier Sancho Cuerva. Sein Urteil fällt indes positiv aus: „Das deutsche System ist nicht so sehr auf Klausuren ausgerichtet, das gefällt mir.“ Außerdem seien die Dozenten für ihre Studierenden da – von Süden aus betrachtet erscheint die deutsche Servicewüste als blühende Landschaft. „Das Studium ist in Deutschland besser organisiert als bei uns“, findet er. Die Studienberatung seines Fachbereichs habe ihm bei der Wahl der Kurse geholfen, so der Spanier. „Am meisten habe ich mich über das Semesterticket gefreut.“

Die einen loben die deutschen Studienbedingungen, die anderen klagen über schlechte Organisation. Der so genannte Bologna-Prozess soll dem ein Ende bereiten: Die EU-Staaten planen, die verschiedenen europäischen Studiensysteme anzugleichen. Verschärfte Anforderungen seien dabei durchaus erwünscht, sagt Eva Lack vom Erasmus-Büro der FU. Die Teilnehmer sollten an der Gastuni ihrem Studienplan folgen und die Scheine zu Hause einbringen – Studieren geht also vor.

Wer nicht Protégé eines einflussreichen Lords ist, wird es wohl bald schwer haben, während des Erasmus-Jahrs Freundschaften fürs Leben zu finden. Vielleicht sind Sancho Cuerva und Reissaar die Letzten, die noch ihren Thomas Morus treffen können.