berliner szenen Auf dem Abstellgleis

Solo in der U-Bahn

Zitty war schuld. Weil ich in Ruhe die neue Ausgabe lesen wollte, stieg ich Uhlandstraße in die Bahn ein, die erst in sechs Minuten Richtung Wittenbergplatz starten sollte. Doch kaum saß ich, ging die Fahrt schon los. Nicht Richtung Wittenbergplatz, sondern Richtung Abstellgleis. Ich blickte nach links und rechts und sah keine Menschenseele. Was hätte ich zu diesem Zeitpunkt für ein Dutzend Schüler auf Klassenfahrt gegeben. Ich hätte ihnen sogar verraten, wo Daniel Brühl tanzen geht. Aber ich war allein, und mir blieb nichts, als dankbar dafür zu sein, dass ich nicht den U-Bahn-Horrorfilm mit Franka Potente gesehen hatte. Dann hielt die Bahn irgendwo im Untergrund. Zunächst blätterte ich noch lässig in der Zitty auf meinen Knien, doch als das Licht flackerte, wog ich die Pros und Cons eines Panikanfalls ab.

Da klingelte mein Handy. Es war meine Mutter. Hatte sie nicht früher schon gespürt, wenn ihr liebes Kind in Not war, bedroht von Kindergartentyrann Paul oder geschüttelt von Pseudokrupp? Auf ihre Intuition war Verlass, ebenso wie auf ihre Schadenfreude. Während sie noch lachte, erblickte ich vor dem Fenster einen orange bewesteten BVG-Mann. Mein erster Instinkt war, mich auf den Boden zu werfen, um nicht entdeckt zu werden. Irgendwie war mir meine Lage peinlich, ich fühlte mich wie ein Berlinanfänger. Doch der Mann hatte mich schon erspäht. Von da an ging alles ganz schnell: Er holte sich die Genehmigung, nochmal zurück zur Station zu fahren, und die persönlichste U-Bahn-Fahrt meines Lebens war ratzfatz vorbei. Ich eilte treppauf, dem Licht entgegen und ging zum Wittenbergplatz zu Fuß. Dort bemerkte ich, dass ich meine Zitty in der Bahn liegen gelassen hatte. Pah, dachte ich, das geschieht ihr recht. LENA HACH