„Es ist noch zu frisch“

Martin Kittner träumte von der Teilnahme an den Olympischen Spielen. Seit einem Sturz auf den Nacken ist der Ringer gelähmt. Verein und Familie tun sich mit der Verarbeitung des Unglücks schwer

AUS LICHTENFELS SEBASTIAN KRASS

Am Anfang eines Gesprächs über das Unglück flüchten sich die Menschen oft in Floskeln: Ja, es ist so weit verarbeitet, jetzt nach knapp drei Monaten. Nein, an meinem Blick auf das Ringen hat sich nichts verändert, ich bin ja schon so lang dabei. Es war einfach ein riesiges Pech, das hätte aber auch auf der Straße passieren können. Was man so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man sich vielleicht nicht einmal über die eigenen Gedanken und Gefühle sicher ist.

Zwei, drei Fragen später wird klar, dass die Menschen beim AC Lichtenfels noch längst nicht alles verarbeitet haben. Am 30. September brach sich Martin Kittner (28), Lichtenfels’ Mann für die Gewichtsklasse bis 60 Kilogramm im griechisch-römischen Stil, während eines Zweitligakampfes gegen Mömbris-Königshofen zwei Halswirbel. Eine Allerweltsaktion, der Versuch eines Überwurfs. Kittner landete unglücklich mit dem Nacken auf der Matte. Er wird vom Hals abwärts gelähmt bleiben.

Wenn die Realität so brutal in die Welt des Leistungssports einbricht, kommen die Maßstäbe wieder ins Lot, ähnlich wie bei Matej Mamic, dem ebenfalls am Rückenmark verletzten Basketballer von Alba Berlin, oder Ronny Ziesmer, dem querschnittsgelähmten Turner – Kittner hatte wie Ziesmer gute Chancen, bei Olympia 2008 dabei zu sein.

„Ich bin damals als Erster zu ihm hin und habe gleich gedacht: Diese Verletzung kennst du nicht“, erzählt Ali Hadidi, der Trainer des ACL. „Seine Augen waren groß und wurden immer größer. Martin sagte, er spüre seine Beine nicht mehr.“ Kittner wurde in die Klinik nach Schweinfurt geflogen. Einen Tag später kam die endgültige Diagnose.

Hadidi ist seit 30 Jahren Ringer. Auch er weiß, dass Ringen eigentlich keine besonders gefährliche Sportart ist. Beim Fußball gibt es mehr Verletzungen. Ringer haben eine sehr starke Nackenmuskulatur. Aber was hilft solches Wissen? Hadidi muss nun seiner Mannschaft, die mitten in der Aufstiegsrunde zur ersten Liga steckt, vorleben, dass es weitergeht, unter dem Motto „Gemeinsam für Martin“.

Im Laufe des Gesprächs kommt er ab von den Floskeln. Er gibt zu, dass sein Blick auf den Sport nicht mehr der gleiche ist: „Es ist noch zu frisch. Wenn ich einen Überwurf sehe, habe ich ein mulmiges Gefühl.“ Drei Meter vor ihm ringt die Zukunft des Vereins. Die Jugend des ACL gewinnt klar gegen Bindlach.

Das Unglück des Martin Kittner verfolgten 750 Zuschauer, die in der engen Halle rund um die hell erleuchtete Ringermatte standen, darunter auch Dominik Rischawy, der Präsident des wichtigsten Sportvereins in der oberfränkischen 20.000-Einwohner-Stadt: „Vor seinem Kampf haben wir uns noch über meinen Geburtstag unterhalten, ein paar Minuten später konnte er nicht mehr laufen.“ Rischawy verbirgt nicht, wie sehr ihn die Situation belastet. Anfang November hat er gesagt: „Es ist die Hölle.“ Er klingt, als sei es seitdem nicht viel besser geworden. Es ist ein schwieriger Weg zurück zum normalen Vereinsleben. „Wenn der Erfolg und die Stimmung da sind, zeigt sich – das mag vielleicht blöd klingen: Zeit heilt alle Wunden.“

Rischawy war durch seine Funktion im Verein von vornherein exponiert. Er hat die Verantwortung angenommen. Der 30-Jährige ist – so komisch das klingen mag – der Manager des Unglücks. Die von ihm initiierte Spendenaktion ist erfolgreich. Über die bislang gespendete Summe will er allerdings nicht sprechen, um Neid und Missgunst vorzubeugen. „Wenigstens um das Finanzielle müssen wir uns im Moment keine Sorgen machen“, sagt Markus Kittner, der Bruder des Verunglückten.

Am Sonntag vor Weihnachten war Martin Kittner zum ersten Mal wieder zu Hause. „Es war schön, aber auch sehr ungewohnt, dass er mit einem Van vorgefahren wird und wir ihn herausheben müssen“, erzählt Markus Kittner. Doch es hat alles geklappt. Später, wenn nach einem halben oder drei viertel Jahr die Reha beendet ist, soll sein Bruder wieder im umgebauten Haus der Eltern wohnen.

Die unangenehmsten Momente sind für Markus Kittner nicht der Weg in die Klinik oder die Besuche, sondern die Zeit danach: „Dann kommen die Gedanken: Wir haben unser normales Leben, und er liegt da drin und kann gar nichts machen.“

Es gibt ein schönes Bild von Martin Kittner aus dem Jahr 1988. „Wetten, dass …“-Moderator Thomas Gottschalk trägt einen blonden Zehnjährigen in Ringerkleidung auf den Schultern, den Wettkönig. Der Junge hatte in einer Minute mehr Brückenüberschläge geschafft als einer der besten deutschen erwachsenen Ringer. Und wie nimmt Martin Kittner selbst seine Situation wahr? Glaubt man denen, die ihn regelmäßig besuchen, dann ist der 28-Jährige meist positiv gestimmt und auch mal zu Scherzen aufgelegt. Er weiß, dass aus medizinischer Sicht ein wenig Hoffnung für den rechten Arm besteht. Vielleicht wird er irgendwann wieder allein essen können.

Den schönsten Satz zu dieser Geschichte sagt Matthias Fornoff, der Mann, der Kittner seit 14 Jahren trainiert hat und ihn zum Paten seines Sohnes gemacht hat: „Es hätte auch schlimmer kommen können. Martin hätte tot sein können.“ Vielleicht ist es ein hilfloser Versuch, sich und anderen Trost zu spenden, aber sicher keine Floskel.