Diktator weg, Diktatur bröckelt

TUNESIEN Nach der Flucht des Präsidenten: Die 23 Jahre währende Alleinherrschaft Ben Alis ist beendet. Doch es gibt noch keine Freudenfeiern. Militär kontrolliert die Hauptstadt

TUNIS taz | Nach der überstürzten Abreise des tunesischen Präsidenten Ben Ali ins saudische Exil kommt das Land nicht zur Ruhe. Es gab bisher keine Freudenfeiern über das Ende der 23 Jahre währenden Diktatur. In der Hauptstadt Tunis patrouillierte gestern Militär auf den Straßen. Über der Stadt kreisten Hubschrauber. Vereinzelt öffneten wieder Läden, doch Lebensmittel wurden knapp. Es gilt weiterhin der Ausnahmezustand mit einer nächtlichen Ausgangssperre.

Offenbar ging das Militär gegen Mitglieder der Leibgarde des geflohenen Präsidenten vor. Die früher direkt Ben Ali unterstellten Sicherheitskräfte weigerten sich aufzugeben, hieß es. Gestern Nachmittag kam es im Zentrum von Tunis zu heftigen Schusswechseln. Gegen den Sicherheitschef Ben Alis wurde ein Haftbefehl erlassen. Ihm wird vorgeworfen, für die Gewalt gegen Demonstranten verantwortlich zu sein. Die Bevölkerung unterstützt das Vorgehen des Militärs gegen bisherige Günstlinge des Regimes. Viele Tunesier machen Milizen Ben Alis für Gewaltakte verantwortlich.

Am Samstag wurden auch viele private Geschäfte angegriffen. Dabei scheint es, als seien insbesondere Läden von Mitgliedern der Präsidentenfamilie überfallen worden. So wurde die Filiale einer vom Schwiegersohn Ben Alis geführten Bank in Brand gesteckt, auch Fahrzeuge der Marken Fiat, Kia und Porsche brannten. Diese Typen werden von Mitgliedern der bisher herrschenden Familie vertrieben. Einige Angehörigen von Ben Alis Clan kamen offenbar bei Racheakten ums Leben, anderen gelang die Flucht ins Ausland.

Unterdessen begannen die größten Parteien mit den Verhandlungen über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Übergangspräsident Fouad Mebazaa versprach einen demokratischen Machtwechsel. Nach der geltenden Verfassung muss Mebazaa binnen 60 Tagen Wahlen ansetzen. Der scheidende Ministerpräsident Ghannouchi wurde mit der Regierungsbildung beauftragt.

Viele Oppositionelle zweifeln am Sinn schneller Wahlen. Sie fühlen sich unzureichend vorbereitet. In der Stadt Regueb protestierten nach Gewerkschaftsangaben rund 1.500 Menschen gegen die Regierungsverhandlungen. „Wir sind nicht für die Bildung einer Regierung mit einer gefälschten Opposition aufgestanden“, riefen die Protestierenden.

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