So schnell schmilzt kein anderer

PRAXIS Der Jacobshavn-Gletscher auf Grönland verliert in nur einem Monat zehn Kubikmeter Eis

BONN taz | Ein Eisberg aus seiner Masse soll 1912 die „Titanic“ versenkt haben – jetzt geht es dem Jacobshavn-Gletscher auf Grönland selbst an den Kragen. In nur knapp einem Monat zwischen dem 7. Mai und dem 1. Juni sei eine Eismenge von etwa zehn Kubikkilometern aus der Gletscherzunge ins Meer gerutscht, berichtet der Gletscher-Experte Espen Olsen in seinem „Arctic Sea Ice Blog“. Das wären umgerechnet zehn Eiswürfel mit einer Kantenlänge von jeweils einem Kilometer. Das südliche Ende des Eisflusses, der an der grönländischen Westküste insgesamt 6,5 Prozent des gesamten Grönlandeises entwässert, macht damit seinem Ruf alle Ehre: Der am schnellsten fließende Gletscher der Welt zu sein – ein Ort, wo man dem Klima beim Wandeln zuschauen kann.

Denn der Eisriese bewegt sich nach einer Studie in der Zeitschrift Cryosphere vom Februar mit einer Rekordgeschwindigkeit von bis zu 46 Metern am Tag. Der Eisstrom nahe der Stadt Ilulissat zieht sich schon seit 1850 zurück, war aber lange relativ stabil. Erst in den 1990er Jahren begann die große Schmelze: Die Gletscherzunge im relativ wärmeren Wasser des Fjords löste sich immer mehr auf, das Eis bewegt sich nun dreimal so schnell wie Mitte der 1990er und „kalbt“ jedes Jahr 35 Milliarden Tonnen Eis ins Wasser. Allein zwischen 2000 und 2010 hat der Jacobshavn-Gletscher so viel Eis verloren, dass er allein den weltweiten Meeresspiegel um einen Millimeter angehoben hat, heißt es in der Studie.

Die Schmelze bestätigt Befürchtungen, dass der Klimawandel in den Polargebieten bereits einen „Kipppunkt“ überschritten haben könnte, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Der UN-Klimarat IPCC stellt in seinem aktuellen Bericht fest, dass das Eis der Arktis seit 1979 zurückgeht und die Gegend so warm ist wie seit 40.000 Jahren nicht mehr. Die Schmelzperiode verlängert sich demnach um fünf Tage pro Jahrzehnt. Wissenschaftler wetten untereinander, wann der Nordpol im Sommer vollständig eisfrei sein wird: schon 2037 oder doch erst 2050?

Bereits Mitte Mai hatte es ähnlich schlechte Nachrichten vom anderen Ende der Welt gegeben: Eine neue Messung des Eispanzers durch den europäischen Cryosat-Satelliten ergab, dass die Antarktis inzwischen doppelt so viel Eis ans Meer verliert wie bei der letzten Inventur. Insgesamt 160 Milliarden Tonnen Eis gelangen demnach jedes Jahr ins Meer, genug, um den Meeresspiegel pro Jahr um einen knappen halben Millimeter zu heben. Vor allem in der westlichen Antarktis verlieren sieben gigantische Gletscher Eis, weil wärmeres Wasser an ihre Füße schwappt. Und dieses Wasser wird bis zum eisbedeckten Kontinent getrieben, weil sich die Windmuster im südlichen Ozean geändert haben – offenbar ebenfalls wegen des fortschreitenden Klimawandels.

Da hilft es auch nicht, dass das Eis auf hoher See im antarktischen Winter in letzter Zeit deutlich zunimmt. Denn im Sommer schmilzt diese weiße Pracht regelmäßig nahezu vollständig dahin. BERNHARD PÖTTER