Hinterm Sichtbeton geht‘s weiter

Vor vier Wochen stand Sommer zwei Tage Rede und Antwort, jetzt knapp 15 Minuten

AUS EMSDETTEN RALF GÖTZE

Die Konturen des grauen Sichtbetons versinken in der Nebelfront. Erst wenige Meter vor dem Bau leuchten bordeaux-rote Lettern aus dem tristen Einheitsbrei hervor: „Geschwister-Scholl-Schule“. Vor knapp vier Wochen rückte dieses konturlose Gebäude das verschlafene münsterländische Emsdetten ins Licht der Öffentlichkeit. Der ehemalige Schüler Bastian B. hatte bei einem Amoklauf 37 Menschen verletzt und sich anschließend im zweiten Obergeschoss selbst getötet.

Jetzt brennt dort wieder Licht – für die Handwerker. Die weiträumige Polizeiabsperrung wurde zwar durch einen eng anliegenden Bauzaun ersetzt, doch der eigentliche Kern bleibt weiter verschlossen. Niemand versinnbildlicht diese Situation besser als die Schulleiterin Karola Keller. Am Tag der Tat trat sie noch zutiefst geschockt vor die versammelten Medienvertreter. Selbst beim Verlesen der vorformulierten Stellungnahme zitterte ihre Stimme. Für eine Antwort auf eine spontane Nachfrage musste sie um jeden Satz ringen.

Bei der gestrigen Pressekonferenz mit NRW-Schulministerin Barbara Sommer (CDU) im Ratssaal Emsdettens spricht sie dagegen gefasst über ihre „Baustellen“, die sie jeden Tag auf Trab halten. Schließlich sind ihre 700 Mädchen und Jungen zurzeit auf elf Schulen verteilt, die psychologische Betreuung muss genauso wie die Gebäuderenovierung koordiniert werden. Und ganz nebenbei stellt sich noch die wichtige Frage, was am 19. Januar eigentlich auf den Zeugnissen stehen soll. „In Abstimmung mit der Bezirksregierung werden wir dort den Leistungsstand vom letzten Tag vor dem Amoklauf dokumentieren und in der Folgezeit ein ausführliches schriftliches Gutachten abgeben“, sagt Keller triumphierend.

Wieder eine Baustelle weniger. Doch bei den Nachfragen zu den eigentlichen Gründen kehrt das Flattern in ihre Stimme zurück. „Ganztagsbetreuung, gute Sozialstruktur, Anti-Aggressionsangebote – wir haben alles und trotzdem ist es passiert“, sagt Keller kopfschüttelnd. Der eigentliche Kern der Tat bleibt ihr weiterhin ein Rätsel. „Ich realisiere das wahrscheinlich erst richtig, wenn ich mal wieder einen Moment Ruhe hab.“

Zwei Plätze neben ihr sitzt Schulministerin Barbara Sommer. Direkt vor der Leuchtsäule mit dem Emsdettener Wappen. Der Hausmeister hat zwar vergessen, sie anzustellen. Aber Sommer ersetzt den leuchtenden Mittelpunkt im dämmrigen Ratssaal. „Ich kann wieder ruhiger schlafen“, leitet die Christdemokratin ihre optimistische Laudatio ein. Warme Worte für alle Beteiligten. Am Revers des schwarzen Kostüms funkelt ab und zu ihre Swarowski-Brosche in Herzform.

Trotz des guten Schlafs wirkt die Stimme ein bisschen gehetzt. Sommer spricht verständlich, aber emotionslos und äußerst schnell. Zwischendurch schneidet sie zwei präventive Themenbereiche an: „Jungenförderung“ durch geschlechterspezifischen Unterricht und ein in Arbeit befindlicher Erlass zur Bereitstellung von Schulpsychologen. Für Letzteres liegt der Handlungsdruck auf der Hand, denn auf einen Schulpsychologen kommen in Deutschland rund 12.500 Schüler. Nur Malta hat in der Europäischen Union und im Vergleich der westlichen Industrienationen eine noch schlechtere Quote. Bei PISA-Erfolgsländern liegt die Relation bei 1:1000. Also ein interessantes Themengebiet, doch für Ausführungen fehlen der Ministerin die Zeit. Vor vier Wochen stand sie zwei Tage lang in Emsdetten Rede und Antwort. Jetzt bleiben nur knappe fünfzehn Minuten.

So schnell wie sie erschienen ist, macht sie sich dann auch schon aus dem Staub. Zurück bleibt Schulleiterin Karola Keller, die sich vor allem bei den beiden präventiven Programmen mehr Verbindliches gewünscht hätte. „Wir stemmen das bisher im freiwilligen Bereich unseres Ganztagsschulangebots, aber die Jungenförderung wie beispielsweise durch geschlechterspezifischen Sport- oder naturwissenschaftlichen Unterricht gehört in den obligatorischen Teil“, sagt Keller. Ohne eine Aufstockung der Lehrkapazitäten sei dies nicht zu realisieren.

Doch nach diesem kleinen Kommentar in Richtung der großen Politik zieht sich die Schulleiterin schnell wieder auf ihr eigenes Ressort zurück. Am 9. Januar will sie die renovierten Räume wieder eröffnen. „Mir fehlt der Schullärm“, sagt Keller. Und zum ersten Mal huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.

Bis dahin müssen aber weiterhin die Schäden des Amoklaufs beseitigt werden. Zwei Stockwerke mussten durch die von Bastian B. gezündeten Rauchbomben komplett saniert werden. Die Sondereinsatzkräfte traten zudem viele Scheiben und Türen bei der Erstürmung des Gebäudes ein. 300.000 Euro hat Bürgermeister Georg Moenikes für die Renovierung der städtischen Realschule zur Verfügung gestellt. „Wir hoffen, dass uns das Innenministerium zur Beseitigung dieser Katastrophenschäden nachträglich Mittel zukommen lässt“, sagt Moenikes. Allerdings sei die Instandsetzung des Gebäudes erst einmal eine vorrangige und davon unabhängige Frage gewesen. Dabei habe man auch versucht, den tristen Betonbau aus den Siebzigerjahren ein bisschen freundlicher zu gestalten.

Von draußen kann man davon noch nichts erkennen. Die nasskalte Witterung verleiht dem Gebäude wieder diesen trostlosen Charme, der bereits vor vier Wochen der Atmosphäre den passenden Rahmen gab. Vor der Eingangspforte der Schule brennen weiter die Friedhofskerzen. Kimberley, Laura, Sandra und andere haben ihre Zettel hinterlegt. Einige sind handgeschrieben, andere mit den Computer. Doch immer wieder taucht dasselbe Wort auf: „Warum“?