Politik zwischen-den Menschen

Die französische Psychoanalytikerin, Philosophin und Schriftstellerin Julia Kristeva hat im Bremer Rathaus den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken verliehen bekommen, weil sie nach Auffassung der Jury die Grenzen zwischen Psychoanalyse und politischem Denken durchlässig gemacht hat

(...) Der Name Hannah Arendts hat sich mir unmittelbar aufgedrängt, als ich mich mit meiner Trilogie „Das weibliche Genie“ vom Massenfeminismus absetzen wollte und begann, eine Eloge auf die weibliche Schöpfungskraft anzustimmen. Dies ist nicht der Ort, um im Detail auf meine Begegnung mit Arendt einzugehen oder auf die Reflexionsgänge, die sie mir eröffnet hat. Dies habe ich in dem Band getan, den ich ihr gewidmet habe: Hannah Arendt oder das Handeln als Geburt und als Fremdheit. Diese Wege erweitern sich immer mehr.

Wenn ich aber ein einzelnes Charakteristikum hervorheben sollte, um den Einschlag zu beschreiben, den ihr Werk bei mir verursacht hat – und um ihn anläßlich der Verleihung dieses Preises, der ihren Namen trägt an diejenigen weiterzugeben, die sie entdecken oder wiederentdecken – dann würde ich ihn folgendermaßen benennen: eine unwiderstehliche Fähigkeit zu überleben. Das französische Wort „survie“ meint das, was dem Tode entkommt und legt gleichzeitig ein Vermögen nahe, über und jenseits des Todes zu leben; aber auch über und jenseits des biologischen Lebensprozesses (zoe) selbst. Denn für Arendt ist dieses „Überleben“ in dem Glück zu denken und zu urteilen verwurzelt. Dies scheint mir tatsächlich der rote Faden zu sein, der sich durch das Leben und das Werk dieser Frau hindurchzieht. Dieser Frau, die während einer der tragischsten Phasen der Menschheitsgeschichte, jene der Shoa, lebte. (...)

Wenn die Noblesse des Politischen in seiner Fähigkeit beruht, ein befremdendes Erneuerndes zu offenbaren, so könnte es doch nicht existieren ohne jene Referenzpunkte und Grundlegungen, die ihm die Triade Autorität – Religion – Tradition in früheren Zeiten verschaffte und die im Zuge der Säkularisierung geschwächt worden sind. Nichtsdestotrotz: Wir, die wir weder Traditionsnostalgiker noch angesichts der Risiken einer „irreparablen“ Säkularisierung in Schreckstarre verfallene Zensoren sind, sind wir fähig zu einer Wiedergründung? Diese ließe sich nicht vollbringen in Form einer Wiederbelebung der gleichen Autorität, der gleichen Religionen und der gleichen Traditionen aus der Vergangenheit. Sondern durch deren „ewige Wiederkehr“ im urteilenden Denken, das in der Pflicht steht, das in ihnen Ungedachte ans Licht zu bringen. Und während es uns Schutz in der alten Gründung bietet, modifiziert es diese durch die neuen Entdeckungen, die unseren pluralen Leben Sinn wieder-geben können, und durch die die Gründung eine Erhöhung erfährt. (...)

Entschiedenermaßen ist Hannah Arendt die Aufständigste/ Auferstehenste von allen. Unermüdlich verkehrt sie ihre Melancholie und die Sackgassen der Moderne in eine Bleibe, eine Öffnung, eine Wieder-Geburt, in eine andauernde, durch ihre Nietzsche- und Heideggerlektüre neubesehene und modulierte, Augustinische Gebürtlichkeit. Es gibt keine Gebrauchsanleitung für diese neue Welt und die neue Politik: nur die Atembewegung der Verbindungen, geschaffen aus überraschenden Wers“ - und das ist enorm. Denn dieses Wieder-Beginnen ist nur möglich, wenn es die Autorität selbst wieder-gründet, was nur geschehen kann über eine Re-Interpretation, eine Wieder-Erfindung. Eine Wiederkehr und eine Wiederaneignung der Autorität- Religion-Tradition - nicht um sie wieder herzustellen (Machiavelli und Robespierre verwechselten das „Gründen“ mit einem „Herstellen“ und endeten in der Tyrannei), sondern um in ihrem eigentlichen nucleus, der Autorität nämlich ihren Sinn zu re-initialisieren, und dies im gegenwärtigen Raum der neuen „Öffentlichkeit der Meinungen“. So ist meine Lesart der testamentartigen Zeilen Hannah Arendts aus „Vom Leben des Geistes“: „Historisch gesehen, ist eigentlich die Tausende von Jahren alte römische Dreieinigkeit von Religion, Amtsmacht [Autorität] und Tradition zusammengebrochen. Der Verlust dieser Dreieinigkeit zerstört nicht die Vergangenheit, und die Demontage selber ist nicht destruktiv; sie zieht nur die Konsequenzen aus einem Verlust, der eine Tatsache ist und als solche nicht mehr Bestandteil der „Ideengeschichte“, sondern unserer politischen Geschichte, der Geschichte unserer Welt.“

In der Welt der Psychoanalyse liefe dieses „die Konsequenzen ziehen“ aus dem Verlust der Autorität auf ein Neudenken des vorpolitischen und vorkulturellen Sinnes des Glaubensdürfnisses hinaus, welches unabdingbar ist bei der Herausbildung einer psychischen Identität, die über die primäre Identifikation mit dem „liebenden Vater der individuellen Vorgeschichte“ als eines idealen, meine Idealität stützenden Anderen abläuft.

Es ist im Lichte dieser paradoxen Konvergenz von Freud und Arendt – beide schreiben, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, das Verborgene in das Erscheinende, das Verdrängte in das Verbotene ein – dass ich nun zum Abschluß eine letzte Arendtsche Spannung ansprechen möchte: Ihre Kritik der Säkularisierung auf der einen Seite, und auf der anderen ihre Verweigerung des Transzendentalismus.

Arendts Stigmatisierung der Säkularisierung zielt auf die Reduzierung menschlicher Differenzen in der Allgemeinheit des „zoon politikon“, die zum gattungsmäßigen „Menschen“ im reduktiven Verständnis der „Menschenrechte“ geworden ist. Denn diese Reduzierung „vergisst“ mehr oder minder absichtlich den Reichtum an Körpern, Begehren und Sprachen, die insbesondere in der französischen Aufklärung aufgeblüht sind.

Dreißig Jahre nach ihrem Tode kommen zu den Gefahren, denen Hannah Arendt sich gegenüber sah – die, indem sie zugenommen haben diese Wiedergründung der politischen Autorität fraglicher erscheinen lassen – neue Tragödin hinzu: Ich denke an den Horror des 11. Septembers, an das inzwischen eingestandene Scheitern der unilateralen militärischen Erwiderung, die vorgab, sich an die Stelle einer politischen und multilateralen Regelung des Nahost-Konfliktes zu setzen, und an die infolge dessen entstandene neue Bedrohung, die schwer auf Israel und der Welt lastet.

Arendt hat sie vorausgeahnt in ihren Warnungen, die arabische Welt nicht zu unterschätzen. Und während sie den Staat Israel als einziges Heilmittel gegen die Weltlosigkeit des jüdischen Volkes, als Rückkehr in die „Welt“ und in die „Politik“ - von der die Geschichte es beraubt hatte – bedingungslos unterstützte, sparte sie nicht mit Kritik an diesem Staat: „Sie sind nach Palästina geflohen wie jemand der versucht, sich auf den Mond zu schiessen, um der Grausamkeit der Welt zu entfliehen“. Obwohl viele ihrer Analysen und Vorstöße uns heute prophetischer denn je erscheinen, konnte Arendt doch nicht den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus und die Ohnmacht der Politik, darauf zu antworten, vorhersehen. Und auch nicht die Ohnmacht gegenüber der apolitia, das heißt, der Indifferenz, welche die Scheinwelt des Spektakels, wie auch die des puritanischen Sicherheitswahns, diese neuen Opiate der Völker, hervorbringt.

Nichtsdestoweniger, diese neue Form der Gewalt – mit der Verwüstung des Denkens, die sie charakterisiert und die sie aufzwingen will, und mit ihrer Verachtung für das menschliche Leben, das sie mit kühlem Vorsatz auf etwas zu Eliminierendes, Überflüssiges reduziert – führt uns zurück auf essentielle Ängste. Und lädt uns ein, Arendts hellsichtige Diagnose wieder aufzunehmen. In diesem Zusammenhang konfrontiert uns, dramatischer als je zuvor, der aktuelle Zustand der Welt in einer beispiellosen Schwere mit der schwarzen Sonne des Skeptizismus, deren Schatten unsere Philosophin der politischen Natalität nicht verschont hat. Wiederholt hat sie sich gefragt, ob die Politik „überhaupt noch einen Sinn hat?“

Dennoch habe ich weiter oben Arendts „Vitalität des Urteilens“ begrüßt als eine des „Über-Lebens“. Ich verstehe darunter keinesfalls ein humanistisches Verbinden moderner Wunden: der Isolation, der Verzweiflung, der persönlichen und/oder politischen Zerstörung. Ich glaube, Arendt ist nicht lediglich eine Denkerin des Abbaus. Ich nehme ihre Freude wahr, zu denken, dass die Wieder-Gründung möglich ist: eine Wieder-Gründung seiner/meiner selbst, die eines Volkes, die des politischen Zeit-Raumes. Dies verlangt eine Liebe für das Vergangene und das Zukünftige. (...) Arendt: „Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz“ ... „Freiheit gibt es nur in dem eigentümlichen Zwischen-Bereich der Politik“.

Bedeutet dies, dass für unsere politische Philosophin die Politik den Platz des Göttlichen einnimmt? Oder, wie ich zu zeigen versucht habe, mäandern das Göttliche wie das Sein in der beunruhigen Meinungshaftigkeit des „Wer-bin-ich“? Das Göttliche wie das Sein partizipieren immanent an der Öffentlichkeit der singulären Subjekte – oder besser gesagt: sie inkarnieren sich in dieser grundsätzlich liebend-leidenden Erzählung, die verschiedene Männern und Frauen um den pluralen Sinn ihres Handelns weben. Wäre die Arendtsche Politik also die erste Politik der Inkarnation? Im Lichte der neuen Bedrohungen in Gestalt der Automatisierung der Gattung und der religiösen Fundamentalismen eröffnen sich von unserer Neulektüre Arendts her zweierlei Möglichkeiten:

1. Entweder wird die wuchernde Entpolitisierung die Rückkehr des Religiösen beschleunigen und den politischen Raum auf lange und unabsehbare Zeit in Ohnmacht verfallen lassen –

2. oder die im Gange befindliche Programmierung des Überflüssigmachens des menschlichen Lebens und die Instrumentalisierung des Todestriebes durch die Integristen wird ein kraftvolles Aufleben des Inter-esses und eine Re-Initiierung der innovativen Subjektivität hervorrufen. Rein logisch geprochen benötigt diese zweite Möglichkeit keine Rückkehr zu, sondern ein Wiedergründen der Autorität des Greco-Judeo-Christentums, welches der Welt das Verlangen nach einer „gemeinsamen Welt“, die sich aus einer Vielzahl von „Wers“ konstituiert und die Arendt das „Zentrum der Politik“ nennt, vermacht hat. Es liegt an uns, diese Erbschaft zu reinterpretieren. Nur eine „neue“, in diesem Sinne erhellte Politik wird den Ruin der Welt vermeiden können. (...)

Ich denke, dass die Wiedergründung der politischen Welt, wie Hannah Arendts Werk sie vorschlägt, uns dazu einlädt, die Sorge um das einzelne Schicksal eines Mannes oder einer Frau, fern jeder Hierarchie, bis ans Herz der Demokratie der Meinungen vorzubringen.

Folglich stifte ich den Hannah-Arendt-Preis 2006 der NGO Humani-Terra (www.humani-terra.org) mit Sitz in Marseille, um sie in ihrer vorbildlichen Arbeit im Krankenhaus von Herat in Afghanistan zu unterstützen. Sie arbeiten dort insbesondere mit afghanischen Frauen, die kein anderes Mittel, ihren Protest gegen die mannigfaltigen Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten auszudrücken als die Selbstverbrennung. Dieser Preis möge zur medizinischen und psychologischen Hilfe und der Begleitung der Versehrten beitragen. In der Hoffnung auf eine Fortsetzung dieses Zusammenwirkens wünsche ich mir, dass es durch den „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken“ möglich ist, ein Mehr an Aufmerksamkeit auf das Los dieser Frauen zu lenken, um die internationale politische Solidarität zu fördern mit ihnen wie auch mit anderen Opfern von Politiken, Ideologien oder Glaubenslehren, die das „Überflüssigmachen menschlichen Lebens“ zum Programm haben oder tolerieren.

Übersetzung: Martin Bannert

Die ungekürzte Rede findet

sich unter www.mehr-dazu.de