Wunsch und Traum

Wenn der Präsident in der Drogerie tanzt, müssen wir das Oberschichtenproblem lösenDAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Nur Bischof Huber stand noch etwas quer in dieser Rekonstruktion

Man soll, so sagt mein Internist, vorm Einschlafen nicht Zeitung lesen oder im Internet surfen. Das führe zu unruhigem Schlaf. Und so war es denn auch. Die ganze Nacht wälzte ich mich. Gegen Morgen hatte es dann doch geklappt, aber um sieben schon knallte die BSR-Kolonne mich aus dem Schlaf, und der Faden des langen, wirren Traums zerriss.

Präsident Köhler, an so viel erinnerte ich mich, tanzte mit einer jungen Frau, die ein schwarzes T-Shirt mit Attac-Logo trug, in einer Drogerie Quickstep, immer um einen Suppentopf herum, und drei junge Männer mit dunklen Haaren reparierten eine Harley Davidson zwischen Regalen mit Bügelstärke und Waschpulver. Die Stirnwand der Drogerie bestand aus einer riesigen Schultafel. Sie war von Rissen durchzogen und mit Kreide stand eine große Bruchzahl drauf: Oben eine Vier mit vielen Nullen, unter dem Strich eine Zwei mit einem Fragezeichen.

Irgendwann klappte die Tafel auf, und dahinter öffnete sich der Raum zu einer Art Terrasse, auf der ältere Menschen mit Rollstühlen kurvten und Kinder spielten. Der Quickstep hatte sich in den Walzer aus Schostakowitschs Jazz-Suite verwandelt und der Präsident und seine Partnerin tanzten ins Offene, gefolgt von den drei Türkenjungs, die im Laufen mit Brötchen jonglierten, vorbei an der Kasse, an der Bischof Huber einen Stapel von Homer-Ausgaben verkaufte.

Träume sind Wunscherfüllungen, sagt Freud, man erkennt sie nur nicht gleich als solche. Aber ihre Entschlüsselung ist ein schönes Morgenspiel. Während das Kaffeewasser warm wurde, spielte ich also ein wenig mit den Traumresten. Sie hielten mich fest, ich puzzelte weiter und schließlich, beim zweiten Frühstücksei, fügten sich die Elemente zu einer politischen Vision, die ich hiermit zur Debatte stelle: beides, die Deutung und die Vision.

Der Präsident – erstes Element des Traums – musste in meinen Schlaf geschlüpft sein, weil ich beim Abendessen über seine biblisch-schlichte Erkenntnis gespottet hatte, der zufolge die „meisten Bürger nicht nach mehr Brot, sondern nach mehr Sinn“ hungerten. Meine linke, aber faire Nichte hatte widersprochen: Das sei unfair. „Ich habe“, so sagte sie, „die Industrie- und Handelskammertagsrede von Köhler nachgelesen. Da zählt er doch alles auf: das international gesehen miese Schulsystem in Deutschland, den Skandal der Langzeitarbeitslosigkeit, vor allem unter den Migrantenjugendlichen.“ – „Gut, gut“, hatte ich gegengehalten, „schöne Worte, aber siehst du irgendwo einen radikalen Vorschlag zur Verbesserung des Schulsystems? Und wo sollen die Arbeitsplätze denn herkommen?“ Und so weiter.

Die Drogerie – zweites Traumelement – war auch noch relativ leicht als Tagesrest zu entziffern. Vorm Einschlafen hatte ich eine alte taz durchgeblättert. Der Drogerie-Unternehmer Werner, dem die dm-Kette gehört, propagierte wieder einmal seine Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens von 800 bis 1.000 Euro. Ich halte nichts davon, da hat Köhler schon recht: Menschen, vor allem junge, brauchen Sinn, also vor allem ernsthafte Arbeit. In dem Interview stand der schöne Satz: „Wir haben eher ein Oberschichten- als ein Unterschichtenproblem.“

Der Satz kommt im Traum nicht vor, aber er erklärte mir die Zahl auf der Wandtafel: die Vier mit den vielen Nullen: Vier Billionen Euro, das ist die Summe der Nettovermögen in der Bundesrepublik, von denen ungefähr die Hälfte den oberen 10 Prozent gehört.

Die Tafel verweist auf Schule, ganz klar. Die dunkelhaarigen Jungen, das waren arbeitslose Migrantenkinder, die einen hohen Anteil der einen Million arbeitslosen 15- bis 30-Jährigen stellen. Die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und dem Attac-Logo? Übrig geblieben vom Kongress „Solidarische Ökonomie“, auf dem anderthalbtausend Menschen zusammengekommen waren, die in alternativen Agrarbetrieben, Sozialeinrichtungen, Armenküchen – ach ja, das erklärt den Suppentopf – mit Hartz-IV-Geld und viel Energie genossenschaftliche Inseln im kapitalistischen Meer aufschütten.

Und die Brötchen? Die waren schon schwieriger. Ich vermute, sie gehen auf einen penetranten Dauer-Wunsch von mir zurück: dass morgens wieder frische Schrippen an der Tür hängen wie in der Kindheit.

Plötzlich stand die Vision klar vor mir: Die defekte Wandtafel, das sind unsere elenden Schulen, vor allem die berufsbildenden. Wenn man – Stichwort: Oberschichtenproblem – nur ein Prozent Vermögensteuer erheben würde, könnte man jede dieser Schulen verbessern, mit vierzig neuen Lehrern und viel Geld übrig für Material. Vierhunderttausend Lehrer. Aber warum stand unter dem Bruch eine Zwei mit Fragezeichen, und keine Eins? Weil ich nicht glaube, dass Bildung allein diesen Jugendlichen eine Zukunft schafft.

Deshalb vielleicht noch mal 40 Milliarden für allerlei Start-ups, zur Subvention von Kindergärten oder genossenschaftlichen Unternehmen, die junge Menschen anstellen und ausbilden, im Pflege-, im Dienstleistungs-, im Reparatur-, im Solar-Bereich. Unsere Städte könnten schöner, alte Menschen intensiver betreut und knackige Brötchen aus ökologisch angebautem Weizen morgens an die Tür gebracht werden. Damit erklärte sich dann auch der Quickstep: Wir müssen ein paar schnelle Schritte machen, sonst fliegt uns der Laden um die Ohren.

Wenn man nur ein Prozent Vermögensteuer erheben würde, könnte man jede Schule verbessern

Nur Bischof Huber stand noch etwas quer in dieser Rekonstruktion. Warum verkaufte er ausgerechnet Homer-Ausgaben? Das Rätsel löste sich, als ich an den Schreibtisch ging. Da lag noch, vorm Einschlafen runtergeladen, die Rationalisierungs-Denkschrift der EKD, „Kirche der Freiheit“, und dick draufgeschrieben hatte ich: „Beheimatungskompetenz“. Sie sei das Kerngeschäft der Kirche, stand da irgendwo zwischen allerlei anderen McKinsey-Wörtern wie „Predigt-best-practice“ und „gabenorientierte Motivationskompetenz“.

„Beheimatungskompetenz“, das klingt wie von einem technokratischer Ernst Bloch. Aber hätten wir sie massenhaft und politisch und nicht als Religions-Schlussverkaufs-Versprechen, könnten solche Traumprojekte unverzüglich angegangen werden. Aber für einen Wunsch ist das doch zu rationalistisch: In meinen Traum ist das Wort geraten, weil die erste „Odyssee“, die ich gehört habe, die schönste Fassung für Kinder übrigens, von Martin Beheim-Schwarzbach übersetzt wurde.

So seltsam spielt der Traum manchmal mit Wortsilben und Fragmenten vergangener Zeiten, so formt das Gehirn im Schlaf disparates Material zu Geschichten, die im Wachen unrealistisch vernünftige politische Gedanken hervorbringen. – Aber die wirklichen Wünsche und Ängste des Träumers, so sagt Freud, liegen noch weit darunter. Also wahrscheinlich irgendwo zwischen Harley-Davidson, Bügelstärke, bedrohlichen Schultafeln, spielenden Kindern und dem Gefühl bei Schostakowitsch-Walzern. Aber das wäre dann die zweite, die private Runde der Deutung; und dies ist keine politische Programmschrift, sondern ein später Beitrag zum Freud-Jahr.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin.