„Der Körper wird zur Bedrohung“

RISIKO Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery hat gerade den Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen angezweifelt. Schadet die Vorsorge also mehr als sie nutzt?

■ 44, die Biologin und Sozialwissenschaftlerin lebt in Bremen und forscht derzeit an der Uni Oldenburg über die Geschichte des mündigen Patienten. Sie hat in ihrem Buch „Die Entscheidungsfalle: Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt“ auch die sozialen Auswirkungen von Früherkennung untersucht.

INTERVIEW MAI-BRITT WULF

taz: Frau Samerski, wie effektiv ist Früherkennung?

Silja Samerski: Vorsorgeuntersuchungen haben überwiegend keinen eindeutigen Nutzen. Oftmals verbessert Früherkennung weder die Heilungschancen noch verringert sich die Sterblichkeitsrate. Statistiken legen nahe, dass sich durch Früherkennung nur die Zeit mit der Krankheit verlängert. Diese Statistiken beziehen sich aber auf Kohorten von Menschen und sagen nichts über den Einzelfall. Selbst wenn die Untersuchung die Heilungschancen hebt, gilt das nur für die Häufigkeit in der Population. Ich bin aber keine Population. Ob es mir etwas nützt, ist eine andere Frage.

Aber tritt in einer Familie vermehrt Brustkrebs auf, sollten die Frauen dann nicht zum Mammographie-Screening?

Es wird zwar empfohlen, aber so einfach ist es nicht. Die Mammographie ist eine Momentaufnahme. Früherkennung sagt nichts darüber aus, was in den nächsten drei Monaten passiert. Man muss sich bewusst sein, was aus dem Screening folgen kann.

Was wäre das?

Es gibt Studien, die indizieren, dass in Familien, in denen häufig Brustkrebs vorkommt, die Sensibilität gegenüber Strahlen hoch ist. Da stellt sich die Frage, ob Mammographie Tumore auslösen könnte. Wer einmal Risikoangst hat, wird diese kaum wieder los. Um Risiken schließlich ganz auszuschließen, hilft nur die vorsorgliche Totaloperation – bei voller Gesundheit. Aber absolute Sicherheit gibt selbst eine Brustamputation nicht.

Welche Risiken birgt die Früherkennung?

Neben Strahlenbelastung, Fehldiagnosen und unnötigen Operationen besteht die Gefahr, dass sich Menschen in falscher Sicherheit wiegen. Sie hören nicht mehr auf ihren Körper, sondern werden von medizinischen Tests abhängig. Früherkennungsuntersuchungen fordern mich auf, einen statistischen Blick auf mich selber zu nehmen. Mich also nach Risiken zu richten, die andere für mich kalkuliert haben, die sich aber völlig meiner Erfahrung entziehen. Und Früherkennung hat außerdem soziale Auswirkungen, weil sich die Haltung zur Zukunft und zum eigenen Körper verändert. Der eigene Körper wird durch Risikovorhersagen und den Druck, zur Vorsorge zu gehen, zu einer Bedrohung.

Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, hat gerade öffentlich den Sinn von Früherkennung angezweifelt. Wie bewerten Sie das?

Die Zweifel an diesen Untersuchungen gibt es schon lange. Es ist erstaunlich, dass es jetzt öffentlich debattiert wird. Ich bin aber froh, dass der Mythos der Früherkennung, man sei dadurch gesünder, könne seine zukünftige Gesundheit kontrollieren, nun infrage gestellt wird.

Was heißt das für Patienten? Früherkennung vermeiden? Das ist eine persönliche Entscheidung, an der individuelle Ängste und Zukunftssorgen hängen. Ich rate allen, sich diese Entscheidung sehr gut zu überlegen. Die Untersuchung verschafft zwar kurz Beruhigung, aber der Horizont an Risiken ist unendlich. Habe ich eine Krankheit ausgeschlossen, kommt die Angst vor der nächsten. Die meisten Menschen, denen Risiken attestiert werden, interpretieren diese als persönliche Bedrohung. Als wäre die Krankheit latent schon da, nur noch nicht ausgebrochen. Dabei sagt ein Risiko: Es kann passieren oder nicht. Früherkennung suggeriert, die Gesundheit läge in unserer Hand und dass wir Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen sollen. Gehen wir nicht zur Früherkennung und werden krank, können wir verantwortlich gemacht werden. Obwohl das völlig absurd ist.

Wem nützt Früherkennung denn? Den Ärzten?

Sicher stecken da auch finanzielle und ökonomische Interessen hinter. Die Früherkennung schafft einen grenzenlosen Markt. Wenn ich erst mal Angst um meine zukünftige Gesundheit habe, dann erwächst ein grenzenloses Bedürfnis, meine Gesundheit abzusichern. Aber es ist komplizierter. Früher war die Medizin auf die Heilung kranker Menschen ausgerichtet. Heute ist sie auf die Optimierung der zukünftigen Gesundheit der Bevölkerung ausgerichtet. Die klinische Medizin hat sich zu einer Risikomedizin entwickelt. Sie geht nicht mehr vom einzelnen Patienten aus, sondern von Populationen und statistisch berechneten Möglichkeitsräumen. Risikoangst und Früherkennung bewirken, dass kerngesunde Menschen zu Dauerpatienten werden.

Was könnte man statt Früherkennung für die Gesundheit tun?

Straßen beruhigen, Spielzonen oder Fahrradwege einrichten und Antibiotikahühnchen verbieten. Die Politik kann viel für die Gesundheit tun. Das Verrückte ist, dass wir immer mehr Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen sollen, obwohl die Lebensumstände immer krankmachender werden.