Eine Straße voller Erinnerung

Von der aufwärtsstrebenden Schuhindustrie sind noch Schuhgeschäft und Outlets übrig geblieben – eine Tour entlang der 120 km langen Schuhstraße in Rheinland-Pfalz. Hier kann der Besucher vor allem in den Orten Hauenstein und Pirmasens in ein Kapitel deutschen Industrielebens eintauchen

von JOHANNES ULRICH SEIBEL

„Eine Straße voller Wehmut“. So steht es auf einem Laternenschild mitten im pfälzischen Dörfchen Vorderweidenthal. Die Buchstaben verwittern. Rost und Dellen fressen sich ins Metall. Das Signet auf rotem Grund, ein hochhackiger Damenschuh wie eine Brücke über eine geschwungene Straße gestellt, verblasst ins Nichts. Ein älterer Mann in blauer Arbeitsjoppe, Gummistiefeln und Schiebermütze gondelt auf einem alten Fahrrad vorbei. Er grüßt einen anderen Alten mit blauer Joppe und Mütze. Der fegt den Gehweg, nickt kurz, murmelt etwas, fegt weiter.

Hier entlang der Grenze zu Elsass und Lothringen war nach der deutschen Reichsgründung 1870/71 das Zentrum der deutschen Schuhindustrie. In den Glanzjahren zwischen 1960 und 1979 gab es hier rund 270 Betriebe mit etwas mehr als 32.000 Beschäftigten. Heute sind es in ganz Rheinland-Pfalz noch knapp 40 Schuhfabriken mit einem Zehntel der Beschäftigten. Aus den Dörfern zwischen Kaiserslautern und Landau sind die Männer und Frauen zu Tausenden täglich mit Bussen in die Fabriken in Pirmasens oder Hauenstein gekarrt worden. 1960 zählte dieses Schuhdorf Hauenstein knapp 4.400 Einwohner. Täglich strömten aus etwa 50 umliegenden Ortschaften über 1.500 Männer und Frauen ins Dorf, um dort ihr Brot zu verdienen. Das war auch der Grund, warum die Deutsche Schuhstraße in mehreren Abschnitt auf Initiative eines Hauensteiner Landtagsabgeordneten eingerichtet worden ist – damit die Pendler schneller zu den Maschinen kommen. Rund 120 Kilometer führt sie durch den Südwesten von Rheinland-Pfalz. Zwanzig Jahre später, 1977, die Rezension hatte der Schuhindustrie längst schwer zugesetzt, sollte die Deutsche Schuhstraße den Tourismus ankurbeln helfen und wurde entsprechend in den Mittelpunkt gerückt. Davon will heute niemand mehr etwas wissen. Offiziell wird die Deutsche Schuhstraße nicht mehr touristisch beworben.

Deutsch-französische Touristikroute, wie jetzt Teile der Straße heißen, klingt den Fremdenverkehrsmanagern verheißungsvoller und vermarktungssicherer. Schuhindustrie gibt es an der Deutschen Schuhstraße ohnehin kaum noch. Jedenfalls die der allgegenwärtigen kleinen Fabriken nicht mehr. Die Firmen, die überlebt haben, sind groß geworden. Längst operieren sie global zwischen China und Ungarn. Sie müssten nicht mehr in der Pfalz sitzen. Verwalten, Modelle fertigen und lagern lässt sich überall. Dass sie trotzdem ihren Sitz hier haben, mag Sentimentalität sein. Wandel durch Handel ist jetzt angesagt.

Zum Beispiel in Hauenstein. In der Industriestraße reihen sich in den ehemaligen Fertigungshallen Schuhgeschäft an Schuhgeschäft. Von März bis Oktober ist auch an Sonn- und Feiertagen geöffnet. Dann wälzt sich eine Blechlawine durchs Industriegebiet. Das Einkaufscenter „Shoecity Hauenstein“ grüßt lichtergrell in Rot vom Ortseingang die Bundesstraße. Ein paar hundert Meter weiter schauen Konsumtouristen Arbeitern in einer Gläsernen Schuhfabrik über die Schulter. Noch einige hundert Meter weiter verfällt die Schuhindustrie endgültig in den Schlaf der Geschichte. Das Deutsche Schuhmuseum lockt mit Superlativen: das prominenteste und größte der Welt. Was den Reiz der Schuhstraße ausmacht: Sie ist widerborstig, enthüllt ihren Charme nur widerwillig. Novembernebel und Niesel passen zu ihr.

Wer sich von all dem nicht abschrecken lässt, wen das schnelle touristische Ausflugsprogramm zwischen Schnäppchenkauf, Espresso und Elsässer Flammkuchen nicht satt macht, der ist hier genau richtig. Wie ein Archäologe kann er an der Deutschen Schuhstraße tief in ein Kapitel deutschen Industrielebens eintauchen. Gerade in Hauenstein.

Die ehemalige Schuhfabrik „Jubo“ streckt sich zwischen Bahnhofstraße und Michaelstraße mitten ins Dorf. Wer näher kommt, dessen Neugier locken im Wind schlagende, offene Fenster. Der weiße Lack auf den Rahmen splittert. Zerrissen hängt ein gelber Vorhang herunter. Im Innenraum stapeln sich Kartons. Das Dach kapituliert zu großen Teilen vor dem Regen. In den Fünzigern und Sechzigern, da feierte hier die Belegschaft von „Jubo“ flirrende Betriebsfeste. In den Archiven mancher Hauensteiner liegen Super-8-Filme in Schwarzweiß, die davon erzählen. Einmal im Jahr ging’s zum Betriebsausflug in die weite Welt. Zum Beispiel nach Baden-Baden. Davon gibt’s noch Postkarten. Betriebssport wurde getrieben. „Katholisches Werkvolk“ oder „Christliche Arbeiterjugend“ wollten Bildung bieten, konnten aber gegen Elvis Presley und Petticoat nichts ausrichten. Hier bahnten sich zarte Liebesbande an oder entzweiten nur mühsam unterdrückte Eifersüchteleien Freundschaften. In der Volksschule suchten die Söhne und Töchter griechischer, jugoslawischer oder spanischer Gastarbeiter Freundschaft in der Provinz. Anfangs argwöhnisch beäugt, waren sie schnell integriert. Manche halten bis heute Kontakt.

Wer bei „Jubo“ unterkam, der konnte etwas und bekam etwas. Der baute sich ein kleines Haus, schickte die Kinder aufs Gymnasium im nahe gelegenen Dahn oder Landau. Heute leben diese Kinder in Frankfurt oder Hamburg oder Berlin. Der Firmenchef träumte von einer besseren Welt. Von seinen weißen Lieferwagen prangten Ende der Siebzigerjahre die berühmten gelben Sonnen mit dem Slogan „Atomkraft. Nein danke!“. Alles vorbei. Der Firmenchef lebt nicht mehr. Der Fabrikbau stemmt sich nur noch mühsam gegen den Verfall. Ein Ort der industriellen Passion, die längst vorbei ist. Das ergreift den Besucher.

Weiter geht’s auf der Deutschen Schuhstraße. In Schwanheim flattert Wäsche im Hof der alten Schuhfabrik „Ph. Mandery“. Das war einer der vielen gewesen, die früher in Hauenstein geschuftet hatten, es selbst dann besser machen wollten, eigene Fabriken gründeten. Hoch über den ersten Fenstern des Baus prangen noch die Buchstaben. Jeder sah hier in den dreißiger, in den fünfziger, in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dass er seines eigenen Glückes Schuster sein konnte. In Schwanheim, da war ein Ph. Mandery stolz, dass eine Fabrik seinen Namen trug. Jetzt sind die Lettern übertüncht.

Weiter über Erlenbach, Niederschlettenbach, am Erzbergwerk Nothweiler vorbei, entlang grüner, saftiger Wiesen, nach Bundenthal und Bruchweiler. Eine Querstraße hoch. Flach kauert sich ein moderner Bau über dem Dorf zusammen. „Theresia Muck“ heißt die Fabrik. Kürzlich musste sie Insolvenz anmelden, meldet die Lokalzeitung. Wer über den Stahlskelettbau blickt, für den wirkt die Fabrik am falschen Ort zur falschen Zeit. Sie stört den Panoramablick auf Kirchturm und Häuser und Felsen aus Sandstein, die weiten Bögen der Hügel im herbstlichen Ocker und Gelb. Als ob die jahrhundertealte Landschaft jetzt genug hat von der kurzen Episode der Industrialisierung, schüttelt sie die Fabrik wie einen lästigen Fremdkörper ab. Weiter über Fischbach nach Ludwigswinkel. Das Autofenster ist ein Fernseher. Ein Biosphärenhaus, ein Baumwipfelpfad, Badeweiher und ein Bussard flimmern über den Bildschirm. Der Greifvogel hockt einsam auf einem Baumstumpf. Müde und klatschnass wartet er auf Beute.

Hier im Wasgau tragen die Fabriken noch Namen wie „Fasan“ oder „Goldkrone“. An der Hauptstraße in Ludwigswinkel schmiegt sich ein langer, weißer Bau in eine kleine Senke. Die großen Fenster sind in unzählige kleine unterteilt. Die typischen alten Fabrikfenster. Ein Atelier hat sich hier eingerichtet. Kunst entsteht. Wer um die alte Fabrik streicht, durch Büsche schielt, an einem Brunnen, der frisches Wasser gibt, hält, der verliert die Fabrik nicht aus dem Blick.

Weiter auf der Deutschen Schuhstraße Richtung Pirmasens. Über enge, steil ansteigende Serpentinen nahe an der lothringischen Grenze zu Bitsch zwingt die „Eselssteige“ zur Aufmerksamkeit. Früher hockten hier die Menschen, um sich einen kleinen Nervenkitzel bei gefährlichen Bergrennen mit driftenden Sportwagen im Alltag des Schuhemachens zu gönnen. Als Hintergrund: tiefgrüner Wald, der plätschernde Bach, die Farne.

Pirmasens kommt in den Blick. Wie ein Gefängnis thront eine alte Schuhfabrik im grünen Anstrich in, besser über der Stadt. Pirmasens gibt sich reichlich unwirtlich an diesem Tag. Schnell weiter auf der Bundesstraße 270 Richtung Waldfischbach. Dann durch den Wald und karge Höhenzüge mit frisch gepflügten braunerdigen Äckern nach Clausen, Merzalben, Leimen. An den Hauptstraßen grüßen alte Fabriken, die früher aus alten Wohnhäusern entstanden sind, mit ihren typischen Tür- und Fensterstürzen aus rotem Sandstein. Jetzt arbeiten Schreiner darin, oder Fitnessstudios, oder gar niemand. Die Glasscheiben verdecken meist nur notdürftig die Blicke zumeist in ein Nichts. Ungenutzte Räume. Vorsichtshalber tun sie so, als hätten sie nur kurz eine Verschnaufpause eingelegt, um vielleicht in einigen Jahren wieder loszulegen. Hier nehmen sich die alten Fabriken aber überhaupt nicht mehr unpassend aus. Sie stören nicht die Landschaft, sie sind die Landschaft. Tief im Pfälzerwald, in Leimen, hält der „Diplomat“ Hof. Der rechteckige Kastenbau reckt sich noch einige Meter höher als das rund 400 Meter hoch liegende Dorf. In den Zeiten des Kalten Krieges boomte hier ein Geschäft mit Militärstiefeln für die Bundeswehr. Dann das Geschäft mit Schuhen, die nur mit Naturmaterialien hergestellt wurden. Die Ökowelle hat den ökonomischen Traum nur kurz genährt. Jetzt stehen hier alle Räder still. Wohnungen nutzen den Raum mehr schlecht als recht.

„Diplomat Schuhfabrik 1904 – 2000. Opfer der Globalisierung“ verkündet ein weißes Schild dort, wo früher die Lastwagenfahrer rangierten. Deutsche Schuhstraße. Eine Straße voller Melancholie.