Anschlagsopfer oder Krankheitsfall

Jegor Gaidar ist ein kühler, nachdenklicher Kopf. Ein Wissenschaftler und Grübler, der sich sklavisch an Fakten hält. So besonnen, dass er manchmal im eigenen Land wie ein Fremdkörper wirkte. Der ehemalige Reformarchitekt und Premier des demokratischen Aufbruchs unter dem früheren Kremlchef Boris Jelzin Anfang der 90er erkrankte letzte Woche in Irland auf mysteriöse Weise. Just einen Tag nachdem im Vereinigten Königreich der russische Agent Alexander Litvinenko einer Überdosis wohl radioaktiven Materials erlegen war. Wie im Fall des flüchtigen Agenten tappen auch Gaidars Ärzte bei der Diagnose noch im Dunkeln. Übelkeit und und Blutspucken waren die Symptome. Ist auch Gaidar Opfer eines heimtückischen Anschlags geworden, dessen Spur in die Laboratorien des russischen Geheimdienstes führen könnte?

Jegor Timurowitsch Gaidar wäre einer der Letzten, der sich an solchen Spekulationen beteiligen würde. Um den Leiter des Instituts für Ökonomien in der Transformation war es in letzter Zeit politisch etwas ruhiger geworden. Zwar ist der 50-Jährige noch Mitglied der liberalen Union der Rechtskräfte (UdR), Ämter hat er nach deren Ausscheiden aus der Duma 2003 jedoch nicht mehr inne.

„Der Untergang des Imperiums, Lektionen für Russland heute“ hieß das letzte Buch Gaidars, dass er in Irland gerade vorgestellt hatte. Gaidar ist den Überzeugungen der Umbruchzeit treu geblieben. Wie damals Ende 1992 als gescheiterter Premier hält er an Demokratie und Marktwirtschaft fest. Für den Niedergang sei Russland selbst verantwortlich. Im heutigen Moskau ist das fast schon wieder eine revolutionäre These.

In den 90er-Jahren zählte der „Westler“ Gaidar zu den bestgehassten Politikern in Russland. Mit den Reformen der „Schocktherapie“ 1992 brachte er Millionen Menschen um das Ersparte. Im Chaos des Umbruchs avancierte er zum Sündenbock und Inbegriff des wilden Kapitalismus jener Jahre. Dennoch kamen Tausende, als er beim Putschversuch rotbrauner Kräfte 1993 die Moskauer zur Verteidigung der jungen Freiheit auf die Straßen rief. Gaidar ist weder ein begnadeter Redner noch Volkstribun. Wenn er in der Duma den reaktionären Abgeordneten Politik erklärte, brachte er sie allein schon durch seinen Stil zur Weißglut. Anatoli Tschubais, Parteikollege und enger Freund Gaidars, glaubt unterdessen nicht an eine zufällige Erkrankung: „Die tödliche Konstruktion Politkowskaja, Litvinenko, Gaidar, die nur durch ein Wunder nicht vollendet wurde, wäre für die Anhänger eines verfassungswidrigen, gewaltsamen Machtwechsels sehr reizvoll.“

KLAUS-HELGE DONATH

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