Aufschwung exklusiv

VON TARIK AHMIA

Das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland gewinnt an Fahrt – und das stärker, als viele Spezialisten es noch vor kurzem für möglich gehalten haben. Erst gestern korrigierten die Konjunkturexperten der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung Europäische (OECD) ihre Prognose nach oben: um 2,5 Prozent werde die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr zulegen, meinen sie jetzt. Anfang des Jahres hatte die OECD noch 1,8 Prozent erwartet. Mit ihrem Optimismus liegt die OECD im Trend der Wirtschaftsforscher: alle führenden Institute haben in den vergangenen Wochen ihre Erwartungen auf ähnliche Werte hochgeschraubt.

Es gibt aber noch mehr Grund zur Freude, wenn man den Forschern glauben darf: die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent ab kommendem Jahr wird die deutsche Wirtschaft besser wegstecken, als bisher erwartet. „Das wird die Konjunktur in Deutschland nicht nachhaltig belasten“, sagte OECD-Chefökonom Jean-Philippe Cotis. Ähnlich positiv hatte sich bereits vor zwei Wochen der Sachverständigenrat der Bundesregierung geäußert – obwohl die Konsumsteuer den Deutschen weitere 25 Milliarden Euro Kaufkraft entzieht.

Neue Zahlen der Marktforscher von der Gesellschaft für Konsumforschung unterstützen die These, dass der Aufschwung jetzt auch in der Bevölkerung angekommen ist: Die Kauflaune sei so groß wie seit fünf Jahren nicht mehr, gab die GfK gestern bekannt. Für die Untersuchung haben die Forscher 2.000 Konsumenten zu ihren Erwartungen befragt. Dabei zeigte sich jedoch auch, dass alles andere als die Lust am Geldausgeben die Konsumerwartungen beflügelt. „Die Entwicklung wird von der Notwendigkeit getragen, größere Anschaffungen noch vor der Erhöhung der Mehrwertsteuer zu machen“, sagte gestern ein GfK-Experte. Gerade in Zeiten knapper Budgets sei es für Verbraucher wichtig, möglichst effizient einzukaufen.

Die nüchterne Feststellung der GfK trifft die Kehrseite der aktuellen Aufschwungseuphorie: Der Aufschwung ist spürbar – aber die Masse der Verbraucher in Deutschland hat nichts davon. Sie müssen ihr knappes Geld zusammenhalten und werden dies angesichts steigender Gesundheitskosten und Energiepreise auch weiterhin tun. Das bekommt vor allem der deutsche Einzelhandel zu spüren. Dessen Umsätze gingen nach neusten Zahlen des Statistischen Bundesamtes im September real um 1,2 Prozent zurück. Im EU-15-Vergleich belegt die Entwicklung des deutschen Einzelhandelsumsatzes den vorletzten Platz. Das überrascht nicht, denn in keinem Land der EU 15 sind die Realeinkommen von Arbeitnehmern und Rentnern im Verlauf der letzten 15 Jahre so gering gewachsen wie in Deutschland. Der Anteil der Bruttolöhne am BIP sank laut Bundesbank von 45,5 Prozent im Jahr 1992 auf heute 40,2 Prozent. Gleichzeitig freuen sich Unternehmen über steigende Einkünfte. Ihr Anteil am BSP stieg im gleichen Zeitraum von 21,4 auf 25,2 Prozent. Seit dem Jahr 2000 sind die Nettolöhne um 5,5 Prozent gesunken, während im gleichen Zeitraum die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 31 Prozent gestiegen sind. Auch die Pleiten unter Privatleuten haben dramatisch zugenommen. Sie stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 31 Prozent. Firmenpleiten gingen im selben Zeitraum um 13 Prozent zurück.

Geringe Lohnzuwächse haben die deutsche Wirtschaft zweifellos wettbewerbsfähiger gemacht und ihr im internationalen Wettbewerb einen Standortvorteil geliefert. Nur zu oft wird dabei aber übersehen, dass diese Strategie auf Kosten des europäischen Wachstums geht. Denn viele Nachbarländer können nicht mehr mit den niedrigen Löhnen mithalten. „In Italien müssten die Löhne um etwa 13 Prozent sinken, um mit Deutschland gleichzuziehen“, sagt Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie.