Krieg ist Fiktion

GEWALT Ukraine. Zentralafrika. Syrien. Alle sprechen vom Krieg. Aber was genau meinen wir damit? 15 Gedanken zu einem permanenten Ausnahmezustand

■ Das Projekt: Die Fotografen Valentina Piccinni und Jean-Marc Caimi portraitierten in Kiew Studenten, Rentner, Künstler und Geschäftsleute, die der Maidan-Protest zu Kämpfern gemacht hat. „An der Front siehst du die Leute nur noch als Soldaten“, sagen die Fotografen. Sie wollten zeigen, dass die Revolution auch andere Bilder produziert als die von brennenden Autos und Verletzten.

■ Die Fotografen: Valentina Piccinni, 32 Jahre alt, lebt in Rom und hat sich auf Porträts spezialisiert. Mit ihrem französisch-italienischen Kollegen Jean-Marc Caimi, 47, arbeitet sie seit vielen Jahren zusammen. Caimi beschäftigt sich in seinen Reportagen mit humanitären und sozialen Themen, wie Flüchtlingen auf Lampedusa, Kriegsveteranen in Libyen oder der Verarmung in Griechenland.

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Es sind Meldungen aus nur einer Woche: Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt vor einem Krieg in der Ukraine. Mali sieht sich wieder im Krieg mit den Tuareg-Rebellen. Thailand ruft den Kriegszustand aus. Tschad kündigt den totalen Krieg gegen die Islamisten von Boko Haram an. Ein Künstlerkollektiv holt den Krieg in Syrien nach Berlin. Dazu: zwei Weltkriegsjubiläen. Dieser Tage reden alle vom Krieg. Viele wie die Blinden von den Farben. Was wissen wir eigentlich über ihn? Was ist Krieg? Welches Bild haben wir von ihm, wenn wir meist ebenso selbstgewiss wie erfahrungsfern über ihn sprechen? Ein paar Vorschläge zur Selbstverständigung und Diskussion.

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Das Schöne am Krieg ist die Einigkeit: Niemand will ihn. Was die Frage aufwirft, warum es ihn dann überhaupt gibt. Eine ebenso belehrende wie ausweichende Antwort ist, den Krieg gebe es ohnehin nicht. Schließlich kennen wir Angriffs- und Verteidigungskriege, Volks-, Glaubens-, Guerilla- und Bürgerkriege, heilige und verbrecherische. Gar nicht zu reden von militärischen Differenzierungen, die vom „totalen Krieg“ der Nationalsozialisten bis zu den „conflicts of low intensity“ im Sudan oder in Burma reichen. Wann etwas als Krieg gilt, ist umstritten. Nur eins ist gewiss: Es gibt dazu immer mindestens zwei Meinungen.

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Das Schöne am Krieg, die Einigkeit, ist also eine Fiktion. Es gibt fast immer jemanden, der ihn will, ihn nötig hat, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Krieg ist das Uneindeutige schlechthin. Allen Kriegen ist diese Uneindeutigkeit eingeschrieben.

Stets werden wir zwei Elemente finden, die jeden Krieg begleiten: Lüge und Glaube. Beide sind Antworten auf das Uneindeutige. Sie reichen sich die Hand bei der beliebtesten aller Begründungen für ihn: dass er erzwungen sei. Lüge und Glaube sind die eifrigsten Sekundanten der Kriegstreiber. Beide Seiten können bekunden: Wir haben es nicht gewollt. Aus jedem Konflikt um partikularste Interessen wird ein Freiheitskampf.

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Krieg ist Fiktion auch als Gegenstand einer unüberschaubaren Literatur: vom ersten großen europäischen Text, der Ilias, bis hin zu militärhistorischen Detailstudien. So wie „Lüge“ und „Glaube“ die typischen Ingredienzien des Umgangs mit dem Krieg sind, so sind „Heldengesang“ und „Analyse“ die typischen Formen seiner Beschreibung. Unser Bild vom Krieg ist stets ein aus beiden zusammengesetztes Mixtum compositum.

Wie bei allen überkomplexen Phänomenen gewinnen wir unser Bild aus einer Mischung emotionaler und rationaler Erklärungsversuche. Beide funktionieren desto besser, je mehr sie dazu geeignet sind, als Wunscherfüllungen zu dienen. Beide versuchen, uns davon zu überzeugen, dass wir auch im Kriegsfall die Guten sind: Wir retten, verteidigen, befreien. Wir rezipieren und beurteilen Phänomene wie den Krieg an der Schnittstelle von Wunsch und den sogenannten Tatsachen. Sind die Giftgasopfer in Syrien nicht immer die der „anderen Seite“?

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Jeder Krieg braucht eine klar strukturierte Story: Wirklich ist nur das, was wir mit anderen teilen, mitteilen, sprich: was wir in die Form einer Erzählung bringen können. Die schönsten Erzählungen folgen der Logik des Märchens. So auch das Bild vom Krieg, das wir seit Kindertagen im Herzen tragen. Wie schrecklich er real sein mag, so ist er als Ausnahmezustand doch die Erlösung vom schäbigen Alltag. Es gibt einen Anfang, der voll von Wünschen und Idealen ist. Es geht gegen das Böse und für die gerechte Sache. Am Ende steht Sieg oder Niederlage.

Eine klare Angelegenheit, so scheint es. Und doch ist auch dies nur Teil unseres Kinderglaubens. Heute weiß jeder Zeitungsleser, dass es so nicht stimmt. Die „neuen“, den ganzen Erdball überziehenden Kriege sind in der Regel nicht zu gewinnen. Sie haben kein Ende. Die Sowjetunion hat in Afghanistan so wenig gesiegt, wie die USA gesiegt haben. Und ist der Krieg gegen den Terror etwa siegreich beendet?

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Wir kennen den Krieg nicht. Selbst wenn wir Zeitzeugen befragen und Tausende von Dokumenten sichten: Wir kennen ihn nicht wirklich, nicht aus eigenem Erleben. Wir haben Bilder davon, Fantasien. Was wir über den Krieg wissen, stammt aus väterlichen oder großväterlichen Erzählungen, Büchern, Filmen und TV-Nachrichten. Trotzdem reden wir über ihn im Geist der Gewissheit, unser „Raster des Krieges“ ist erstaunlich schlicht. Es ist die Synthese aus dem oben beschriebenen Kinderglauben und schwer kontrollierbaren medialen Informationen. Wir reden und denken über ihn aus der Betrachterperspektive.

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Genau dieser Tatbestand steht am Anfang des modernen Nachdenkens über den Krieg. Wie oft wurde dieser Tage die beinahe religiöse Ekstase zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschrieben? Wien im August 1914: Während die Massen auf den Straßen „Serbien muss sterbien“ brüllen, verfällt ein bald 60 Jahre alter Wiener in knabenhafte Begeisterung. Er feiert „das Befreiende der mutigen Tat“, ist unfähig, seiner Arbeit nachzugehen, reizbar und so nervös, dass er sich laufend verspricht. „Ich fühle mich“, schreibt er an einen seiner Kollegen, „zum ersten Mal seit dreißig Jahren als Österreicher.“ Und: „Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn.“

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Dass ein erklärter Priester des Gottes Ratio wie Sigmund Freud sich derart besinnungslos von der kollektiven Begeisterung mitreißen ließ, sagt viel über die Wirkung von Kriegen. Plötzlich fühlte sich der Außenseiter Freud – Jude und Begründer einer Wissenschaft, die für die erdrückende Mehrheit seiner Mitbürger ein Skandal war – als Teil der völkischen Gemeinschaft.

Krieg, das polarisierendste Mittel der Politik, hat nach innen hochgradig integrative Funktionen. Er ist das Mittel par excellence, um Gesellschaften zu homogenisieren, die intern flottierende, potenziell selbstdestruktive Aggression nach außen zu wenden und im gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Über die Jahrhunderte haben Herrscher davon Gebrauch gemacht. Krieg formiert und formatiert ganze Gesellschaften. Langfristig.

Denn Kriege enden nicht, wenn ein Frieden ausgehandelt ist. Sie wirken nach: Kriegsgenerationen wie etwa die Kombattanten der Weltkriege tragen den Ausnahmezustand in die „Friedenszeit“. Die erlittenen Traumata verzerren nachhaltig die Maßstäbe fürs Leben, machen blind, hart und verstümmeln den Zugang zu den Folgegenerationen: in ihnen hat er sein intimes Nachleben. Krieg ist nicht nur, wie die Sozialwissenschaftler sagen, ein Gesellschaftszustand, sondern ein state of mind. Tatsächlich, Krieg beginnt und endet im Kopf.

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Unser Verhältnis zum Krieg, an dem wir nach einer kollektiven Latenzzeit von mehr als fünfzig Jahren wieder teilnehmen, ist heute das zu einem fernen Geschehen. Gewiss, es gibt wieder Deutsche an der Front. Aber wo liegt die eigentlich? Würden unsere Landsleute aufgefordert, alle Standorte unserer Truppen zu bestimmen, die meisten wären überfordert. Afghanistan. Somalia? Was war da noch?

Unsere Kriege finden irgendwo draußen statt, sie haben etwas Abstraktes, Virtuelles. Sie gleichen mehr den Szenarien von Ego-Shootern als einer greifbaren Realität. Die Bilder, die wir davon vermittelt bekommen, unterscheiden sich kaum von Hollywoodinszenierungen. Und die relativ wenigen, die „uns“ vertreten, sind eben nicht unser aller Brüder, Väter und Kinder. Wir schauen nicht ängstlich auf unsere Liebsten, die im Feld stehen und – für uns – das Leben riskieren. Wir sind weitgehend affektfreie Zuschauer im TV- und Internetwelttheater geworden, weil uns die persönliche Bindung an die Kämpfenden fehlt.

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■ Deutschland erklärt den Krieg: Das Kinderspiel. Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zeichneten Kinder einen Kreis in die Hinterhofasche und teilten ihn in Sektoren. Der Spieler, der Deutschland war, warf den ersten Stein – in das Feld eines anderen. Ziel: die ganze Welt beherrschen.

■ Risiko: Das Brettspiel. Seit 1957 gewinnt, wer mit kleinen Soldaten, Pferden und Panzern andere Länder einnimmt. Wurde 1982 fast indiziert. Von da an wurden Gebiete nur noch „befreit“ und Armeen „aufgelöst“ statt wie zuvor „erobert“ und „vernichtet“.

■ Battlefield: Das Ballerspiel. Spieler am PC schlüpfen in die Rolle von Soldaten. Neueste Version: Krieg gegen China oder Russland. Laut den Entwicklern entscheiden „Waffenkontrolle“, „überlegtes Vorgehen“ und „Teamplay“.

Im Jahr 1914 war das anders. Dem kriegsbegeisterten Freud verflog die Hochstimmung blitzschnell. In der zweiten Kriegswoche meldete sich sein ältester Sohn als Freiwilliger an die Front, kurze Zeit später wurde sein jüngster zur Artillerie eingezogen. Der Krieg fand nicht mehr nur in den Zeitungen statt. Freuds Begeisterung wich der Ernüchterung. Seiner Methode entsprechend machte er sich selbst zum Gegenstand der Analyse. Sein Nachdenken über den Krieg richtete sich nicht primär auf das weltgeschichtliche Geschehen, die Not der Kombattanten und das Grauen der Schützengräben. Er analysierte das „seelische Elend der Daheimgebliebenen“.

Wir hingegen sind nicht emotional dabei, sondern distanzierte Beobachter eines distanzierbaren Geschehens. Die heutigen Kriege sind keine „totalen“ mehr wie die beiden Weltkriege. Die in den TV-News bebilderten Kriege am anderen Ende der Welt folgen einer anderen Logik. Drastisch abzulesen etwa an der Zahl der Opfer in der Zivilbevölkerung. Waren laut Emergency-Gründer Gino Strada im Ersten Weltkrieg 16 und im Zweiten 65 Prozent der Getöteten Zivilisten, sind es in den „neuen Kriegen“ 90 Prozent. Überspitzt gesagt: Es sterben nicht mehr unsere Soldaten.

Das „seelische Elend der Daheimgebliebenen“, das Freud im Blick hatte, ist kein Phänomen unserer Lebenswelt mehr. Die hohe Zahl der Opfer unter den Anderen erzeugt bei uns emotionale Indifferenz. Was ist so furchtbar, wenn uns Unbekannte im Niemandsland sterben? Was ist unsere Verbindung dazu?

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Das Nachdenken des „Daheimgebliebenen“ konfrontierte Freud mit einem bohrenden Gefühl: Enttäuschung. „Die Enttäuschung des Krieges“, wie er den ersten Teil seines Aufsatzes übertitelte, war die über das Scheitern des Projekts der Aufklärung. Wir können dieses Gefühl nicht mehr nachvollziehen. Denn wir haben Freuds Utopie, die Möglichkeit einer „Höherentwicklung“ der Menschheit, längst als Illusion aufgegeben.

Die kollektive Regression, als die Freud den Kriegszustand empfand, markierte für ihn den Tod der Idee eines „Kulturweltbürgertums“. Das heißt einer denkbaren Entwicklung der Menschheit auf ein intellektuelles und emotionales Niveau, das versprach, auch die Grenzen des arteigenen aggressiven Verhaltens neu zu regulieren. Freud spürte, dass die gerade erlebbare Bereitschaft zum Rückschritt eine unhintergehbare Beschaffenheit des Menschen sein könnte. Im November 1914 schreibt er an Lou Andreas-Salomé. „Ich zweifele nicht daran, dass die Menschheit auch diesen Krieg verwinden wird, aber ich weiß sicher, dass ich und meine Altersgenossen die Welt nicht mehr froh sehen werden. Es ist zu garstig; das Traurigste daran aber, dass es gerade so ist, wie wir uns nach den von der Psychoanalyse geweckten Erwartungen die Menschen und ihr Benehmen vorstellen sollten. […] Da wir die gegenwärtig höchste Kultur nur mit einer enormen Heuchelei behaftet sehen, so taugen wir organisch nicht für diese Kultur. Wir haben abzutreten, und der oder das große Unbekannte hinter dem Schicksal wird ein solches Kulturexperiment einmal mit einer anderen Rasse wiederholen.“

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Es ist keine Frage, dass der Zweite Weltkrieg zumindest die Destruktionsquantität noch gesteigert hat. Die Frage ist, was das mit unserer Vorstellungskraft macht. Welche Erzählung, welches Märchen können wir den Bildern einschreiben, die uns die Medien liefern? Und: Was ist unsere „Analyse“?

Dass es nicht ein Aggressionstrieb des Menschen ist, sondern in aller Regel handfeste Interessen ökonomischer und geostrategischer Art sind, die zum Krieg führen, ist gängiges Wissen. Ebenso gewiss ist, dass die damit unterstellte Rationalität brüchig ist. Niemals ist das machtpolitische Kalkül das einzige, oft nicht einmal das entscheidende Element. Größenfantasien, Gelüste nach Rache für erlittene „Schande“ oder schlichter Irrsinn der Führung spiegeln kollektive Gemütslagen so, wie diese „von oben“ erzeugt werden. All das wissen wir. Aber es gelingt uns nicht mehr, das Wissen mit jener untergründigen Märchenstruktur zusammenzubringen, die notwendig ist, um eine stimmige Erzählung zustande zu bringen, nach der Krieg für uns als Gewinn erscheinen könnte.

Die Kriegsbilder, die wir heute als Zuschauer geliefert bekommen, sind ungeeignet, unsere Wünsche nach Gemeinschaft, Heldentum und außeralltäglicher Sinnstiftung zu befriedigen. Sie verschaffen uns nicht den Kitzel kollektiver narzisstischer Größenvorstellung.

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Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Krieg für uns als dauernder Begleiter unserer digital erweiterten Realität nicht mehr der Ausnahmezustand ist, der immer wieder so unerhörte Effekte erzielen konnte. „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden“, stellte Ingeborg Bachmann schon in den 1950er Jahren fest. Wir haben ihn auf diesem Wege emotional outgesourct. Durch seine virtuelle Dauerpräsenz hat der Krieg einen großen Teil seiner regulativen Kraft eingebüßt.

Gleichzeitig geschieht unbemerkt eine Verlagerung des Kriegszustands ins Soziale, in unsere Lebenswelt. Der Ausnahmezustand wandert in dem Maße nach innen, wie wir unsere emotionale Beteiligung am permanenten äußeren Kriegszustand verloren haben. Daraus resultiert Krieg als Gesellschaftszustand und state of mind: ein Binnenkrieg, der sich subkutan abspielt, indem wir einen Teil der Gesellschaft wortlos als potenziell bedrohlich ausgrenzen.

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Für den Binnenkrieg braucht es keine innerstaatliche Feinderklärung. Er ist der unerklärte Bürgerkrieg der Zweidrittelgesellschaft, die de facto Millionen ihrer Mitglieder ausbürgert und für überflüssig erklärt. Nun wurde es uns selbst von der OECD vorgerechnet: Deutschland bricht auseinander. Binnenkrieg, das ist der prekäre Zustand des stummen Auseinanderdriftens von Gesellschaften.

Wer das Kainsmal des Ausgegrenzten trägt, ist der potenzielle Feind von jedem, dem dieses Schicksal erspart bleibt. Die Bedrohung kommt von innen, und das Potenzial ist groß. Jeder Fünfte in unserem reichen Land ist arm, ein Viertel der Deutschen armutsgefährdet, eine Viertelmillion Menschen wohnungslos. Wer kennt die genaue Zahl der Verwahrlosten und Verzweifelten? Jeder fünfte 15-Jährige kann nicht richtig lesen, mehr als zwei Drittel unserer Mitbürger sagen, mit Deutschland „gehe es den Bach runter“. Fatalismus macht sich breit. Er ist das Grundgefühl des Binnenkriegs, das psychische Pendant zur aufbrechenden Empörung des Bürgerkriegs. Was bedeutet es für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn der äußere Krieg nicht mehr hinreichend Emotionen bindet, der Binnenkrieg aber kaum greifbar wird, weil er gesichtslos ist, weil das Schicksal der „Überflüssigen“ unbesungen bleibt?

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■ 63, ist Sozialpsychologe und Führungskräftecoach in Frankfurt am Main. Er promovierte bei dem Sozialphilosophen Oskar Negt, lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel und arbeitete am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Ein Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen ist die Generationengeschichte des Nationalsozialismus. 2012 veröffentlichte er gemeinsam mit Ulrike Jureit „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“.

Es geht heute darum, psychosoziale Entsprechungen für die alten, traditionell kriegerisch mobilisierbaren Kräfte zu finden, ohne selbst Krieg führen zu müssen. Um binnenbefriedende Effekte zu erzielen, muss infolgedessen Inneres nach außen verlegt werden. Der ärgste Feind ist jener, der aus dem Eigenen nach außen projiziert, sich plötzlich gegen uns wendet. Das Unheimliche, so wissen wir von Skeptiker Freud, ist das travestierte Heimliche, das eigene Fremde.

Bei allen Konfrontationen, die Parteilichkeit fordern, geht es wesentlich darum, was als Eigenes, was als Fremdes definiert und erlebt wird. Der Ukrainekonflikt, dieser Krieg im Wartestand, dokumentiert eindrucksvoll veränderte historische Realitäten, die erkennbar in unserer Psyche Platz gefunden haben. Die wohl wichtigste besteht darin, dass das Eigene mittlerweile nicht mehr exklusiv national deklariert ist: Es ist nicht mehr deutsch, schwedisch oder französisch, es ist „westlich“. Infolgedessen ist die von uns flugs dem Westen zugeschlagene Ukraine ein Teil von uns und schon deshalb „gut“. Russland dagegen ist nach wie vor der Osten, das bedrohlich Fremde schlechthin – wofür es gerade in Deutschland eine explosive Masse historischer Gründe gibt.

In dieser Frontstellung wird nicht nur der Kalte Krieg wieder aufgewärmt, viel tiefer greifen die Weltkriegserzählungen der Vorfahren, die zur Fantasiefolie unseres Erlebens geworden sind. Was sich zwischen Kiew und Moskau abspielt, ist der erste Konflikt mit kriegerischem Potenzial, in dem wir wirklich wieder „dabei“ sind, weil alte Erzählungen sich in neuen Identifizierungen wiederfinden lassen.

Der Ukrainekonflikt ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „Stellvertreterkrieg“. Er erfüllt alle Bedingungen, um das Zusammenspiel von Lüge und Glauben, von Wunsch und Aufregung, Märchen und Analyse auf ein neues Niveau zu heben: ein Krieg, an dem wir nicht teilnehmen müssen, um trotzdem – endlich wieder – emotional beteiligt zu sein; und das sogar ohne dass es sich um einen „wirklichen“ Krieg handelt.

Für die vor Ort Beteiligten mag es ein Albtraum sein. Für uns ist es eine Art Auswärtsspiel historisch abgelagerter Gefühle. Kein Wunder, dass dieser zweifellos weltpolitisch relevante Konflikt medial gerne als Teil eines Identitätsdiskurses behandelt wird. Es gehört zur unheimlichen Logik dieses Spiels, dass wir – teilweise mit derselben Argumentation – auch die gegenteilige Option wählen können, um uns emotional zu erhitzen.

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So stellt uns die aktuelle Konfliktsituation vor die Frage: Wer sind wir eigentlich? Was umfasst dieses ominöse „Wir“? Wir Menschen, wir Westler, wir Europäer, wir Deutsche, wir taz-Leser?

Seit Langem hat kein Konflikt so sehr polarisiert wie der um die Ukraine. Er schafft Fronten, er hat einen Meinungskrieg ausgelöst, in dem nicht immer nach den Gesetzen der Fairness gekämpft wird. Insofern könnte er, wenn wir unsere eigene Rolle darin verstehen, reflexiv heilsame Wirkung haben. Er könnte uns sagen, was der Krieg sei, noch bevor er ausgebrochen ist. „Der Krieg“, sagt die Basler Psychoanalytikerin Kathy Zarnegin, „hat seinen Ursprung in kleinsten menschlichen Interaktionen, in denen längst nicht jemand physisch vernichtet wird, sondern die Würde seiner Existenz übergangen wird. Der Krieg findet dort statt, wo jemand gesichtslos gemacht wird.“

Wenn in einem halben Jahr niemand mehr von der Krim redet, wenn Ortsnamen wie Slawjansk vergessen sind und die Heizkostenrechnung wieder wichtiger ist als Putins Mimik, dann ist es Zeit, neu über den Krieg nachzudenken. Ich schlage vor: über den unbesungenen, gesichtslosen Binnenkrieg vor unseren Türen. Vielleicht finden sich ja Sänger, die es verstehen, Realitätssinn mit Poesie so zu vereinen, dass daraus Gesichter kenntlich werden. Gesichter, die wir nicht mehr beliebig aus unserem Blick entlassen können.