Die neue Paragraphen-Reiterei

Die WASG will eine neue Debatte über den Abtreibungsparagraphen anstoßen. Auch Behindertenvertreter ärgern sich über immer mehr Spätabtreibungen von behinderten Kindern

VON NATALIE WIESMANN

Der Paragraph 218 erlebt eine Renaissance. In der WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit) Nordrhein-Westfalen wird zurzeit diskutiert, ob die alte Forderung der Linken nach einer Streichung des umstrittenen Paragraphen noch angemessen ist. „Die Linke muss neu darüber nachdenken, wie sie zum ungeborenen Leben steht“, sagt Britta Pietsch, behindertenpolitische Sprecherin der WASG in NRW und Mitbegründerin einer parteiinternen Initiative zum Thema. Auch die Bundes-CDU will den lang erkämpften Kompromiss nicht so stehen lassen: Sie hat im Koalitionsvertrag mit der SPD einen Passus durchgesetzt, nach dem die Große Koalition die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch neu überprüfen muss.

Neue medizinische Techniken wie die Embryonenforschung oder die pränatale Diagnostik haben die ethische Diskussion um das Lebensrecht von ungeborenen Kindern wieder entfacht. „In der heutigen Zeit reicht die platte Forderung ‚weg mit Paragraph 218‘, nicht mehr aus“, so Pietsch. Es ginge aber nicht darum Frauen, die abtreiben, zu kriminalisieren, betont sie. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen zunehmend aussortiert werden.“ Denn immer mehr werdende Eltern entschieden sich nach einer Fruchtwasseruntersuchung für eine späte Abtreibung behinderter Kinder. Pietsch plädiert dafür, dass Schwangerschaften straffrei, aber nur bis zur zwölften Woche abgebrochen werden dürfen – nach dem Modell der DDR.

Seit der Novellierung im Jahr 1995 ist eine Abtreibung bis zur 40. Schwangerschaftswoche möglich – wenn die Frau ihrem Arzt beweisen kann, dass das Austragen des Kindes sie physisch oder seelisch „schwerwiegend beinträchtigen“ wird. Ohne schwerwiegenden Grund, wozu auch eine Schwangerschaft durch Vergewaltigung gehört, darf eine Frau nur in den ersten zwölf Wochen abtreiben – wenn sie sich einer Beratung unterzieht. Die Krankenkassen zahlen den Schwangerschaftsabbruch in der Regel nicht. Denn formell bleibt Abtreibung ein Straftatbestand.

Trotzdem wollen die Feministinnen, die in den 70er und 80er-Jahren für ein Recht auf Abtreibung gekämpft haben, keine neue Debatte anzetteln: „Wir haben den Kompromiss von 1995 hart erstritten“, sagt Daniela Schneckenburger, Vorsitzende der Grünen NRW. Auch eine Frau, die spät abtreibe, habe sich das reiflich überlegt. Die Grünen im Land – wie übrigens auch die SPD – wollen an dem Kompromiss von 1995 nicht mehr rütteln: „Damit helfen wir den Frauen nicht. Dafür spielen wir den Konservativen in die Hände“, so Schneckenburger.

Die radikalen Gegner von Abtreibungen sind noch nicht auf die Debatte aufgesprungen. Doch die Behindertenvertreter melden sich zu Wort. Sie fordern eine Gleichberechtigung von jedem ungeborenen Leben: „Es ist nicht einzusehen, dass gesunde Kinder nur bis zur zwölften Woche, behinderte Kinder bis zum Schwangerschaftsende abgetrieben werden dürfen“, sagt Willibert Struntz, Vorsitzender des Behindertenrats NRW. Gerade bei den älteren Paaren, die die pränatale Diagnostik häufiger nutzten, sei ein Trend zur späten Abtreibung behinderter Kinder festzustellen.

Doch Spätabtreibungen machen nur einen kleinen Teil der Gesamtzahl an Abbrüchen aus: Im Jahr 2005 haben von insgesamt 25.000 Frauen 629 nach der Regelfrist von zwölf Wochen abgetrieben.