Ich lebe jetzt in Lemberg

ANKUNFT Vor einem Monat ging die ukrainische Journalistin Ana Gordijenko in die Emigration – in den Westen des eigenen Landes

■ 27, verließ im März ihre Heimatstadt Simferopol, weil sie sich bedroht fühlte. Unter anderem hatte eine Frau versucht, ihr auf der Straße ihre ukrainische Bluse vom Körper zu reißen und sie als „Banderowza“ (ukrainische Faschistin) beschimpft. Seit einem Monat lebt die Journalistin in Lemberg. *Name geändert

AUS LEMBERG ANA GORDIJENKO

Den Tag, als ich mit dem Zug von Simferopol nach Lemberg kam, werde ich wohl nie vergessen. An den Gleisen warteten bereits junge Menschen mit Luftballons und Plakaten mit der Aufschrift „Krim-Bewohner, herzlich Willkommen!“. Wie ich später herausfand, waren das Studenten der Lemberger Universität, die Studenten aus der Krim begrüßten, welche ihr Studium nun in der Westukraine fortsetzen wollten.

Der Empfang war so herzlich und warm, am liebsten wäre ich auf die jungen Menschen zugelaufen und hätte gerufen: „Seht her, ich bin auch aus der Krim und werde jetzt in Lemberg wohnen!“ Natürlich gab es nach meiner Ankunft vor vier Wochen zuallererst viele praktische Fragen zu klären. Wo werde ich wohnen und arbeiten, wie kann ich mein Bankkonto entsperren und wie finde ich neue Freunde?

Mit der Wohnung hatte ich gleich Glück. Die Arbeitskollegin einer Lemberger Freundin von mir bot Flüchtlingen aus der Krim ihre Hilfe an. Ich wandte mich an sie – und wurde herzlich aufgenommen. Oxana und ich verstanden uns auf Anhieb gut und ich zog zu ihrer Familie in das beste Viertel der Stadt. Jetzt wohne ich in einer ruhigen Straße mit alten österreichischen Häusern, unweit vom Stadtzentrum.

Die Sinne geschärft

In diesen alten Häusern kann man den Geist Lembergs besonders gut spüren. In der Nähe meines Hauses gibt es einen See, an dem die Lemberger gerne spazieren gehen. Die Schönheit dieses Ortes nimmt mich gefangen. Nicht, dass es in meiner Heimatstadt Simferopol keine solchen malerischen Orte gegeben hätte. In Lemberg aber habe ich das Gefühl, dass meine Sinne schärfer, fokussierter, geworden sind.

Nach nur einem Monat in Lemberg verstehe ich, wie wenig ich eigentlich über mein Heimatland weiß. In Galizien (die drei westlichen Gebiete der Ukraine) gibt es eigene Traditionen, ein eigenes Verhältnis zur Kirche und ein ganz eigenes Vokabular im Ukrainischen. Im Westen fühle ich mich wie ein blindes Kätzchen, das die Welt erst ertasten muss. Die Bewohner Galiziens sind sehr offen, warmherzig, treu und gerechtigkeitsliebend. Oxana, die mir Unterkunft gewährt, ist das beste Beispiel für diesen Menschenschlag. Bei ihr fühle ich mich sicher und verspüre keine Angst.

Vor Kurzem habe ich gemeinsam mit ihrer Familie Ostern gefeiert. In Lemberg sind die Familien mit durchschnittlich 2 bis 3 Kindern relativ groß. Obwohl die Traditionen auf der Krim etwas anders sind, habe ich mich nicht fremd gefühlt. Lemberger, die von meinem Schicksal erfahren, bringen mir viel Respekt entgegen und bieten ihre Hilfe und Unterstützung an. Das macht mich gleichzeitig fröhlich und traurig. Ich denke daran zurück, dass auch ich einmal dieses geborgene Familienglück besessen habe – und in einem einzigen Moment wieder verlor. Fremde Menschen sind für mich zu engeren Bezugspersonen geworden als meine eigentlichen Verwandten. Das ist die Tragödie von Menschen wie mir.

Nachrichten aus der Krim dringen jeden Tag an mein Ohr: Gehälter werden in Rubel ausgezahlt, die Wasserversorgung wurde eingestellt, die Bankautomaten geben kein Geld heraus, die Hrywnja wird in Geschäften nicht mehr angenommen. Auf dem ukrainischen Festland registriert man die Nachrichten als Fakten. Die Menschen auf der Krim aber müssen lernen, unter diesen Bedingungen zu leben. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass die meisten Krim-Bewohner enttäuscht seien über die Realität.

Schönheit in der Vielfalt

Sie nehmen das als vorübergehende Schwierigkeiten wahr, als eine Übergangszeit, so wie nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Zeit werde es schon zeigen, denken sich viele, alles werde an seinen Platz zurückkehren. Das Wichtigste aber ist, dass die russische Propaganda nicht auch noch die letzten Reste der Toleranz füreinander vergiftet, von der auf der Krim sowieso noch wenig übrig geblieben ist.

In der kurzen Zeit in Lemberg habe ich verstanden, dass die Ukraine viel zu groß ist, als dass wir alle gleich sein könnten. Die Schönheit der Ukraine besteht gerade in der Vielfalt. Aber manchmal zerreißt diese Vielfalt einem das Herz. Wenn ich einen mir nahestehenden Menschen auf der Krim anrufe und er wegen der Anti-Terror-Operationen im Südosten des Landes in Tränen ausbricht, verstehe ich, dass die Menschen im Süden und Osten in einer Parallelwelt leben. Die Menschen im Westen und Osten der Ukraine haben Angst, aber nicht vor irgendjemandem, sondern voreinander.

Manchmal denke ich immer noch, das alles, was mit mir geschieht, ein Film ist. Das Gefühl der Unwirklichkeit begleitet mich. An meinem inneren Auge ziehen grüne Männchen, der Bahnhof, das Zuggleis, meine alte Mietwohnung vorbei. Sich selbst Flüchtling zu nennen, stört mich – was für ein Flüchtling kann ich schon sein, im eigenen Land? Ich bin einfach nur umgezogen, zeitweise. Ich glaube daran, dass ich eines Tages aus diesem Albtraum erwachen werde, die Strahlen der warmen Krimsonne in meinem Schlafzimmerfenster.

Beide Texte aus dem Russischen übersetzt von Ljuba Naminova