Das hungrige Auge

FRÜHE FARBFOTOGRAFIE Mit der ersten deutschen Werkschau des kanadischen Fotografen Fred Herzog zeigt C/O Berlin eine echte Entdeckung der dokumentarischen Street Photography jenseits der üblichen Schwarz-Weiß-Ästhetik

VON ACHIM DRUCKS

Neonreklamen tauchen einen trüben Winterabend in orangerotes Licht. Kaum ein Geschäft, Hotel oder Restaurant an Vancouvers belebter Granville Street scheint ohne Leuchtschrift auszukommen: die Apotheke offeriert „Super Drugs“, an einem Kino überragen die dynamisch geschwungenen Lettern sogar die Hausfassade. Fred Herzogs 1960 entstandene Aufnahme zeigt ein vertrautes Motiv der amerikanischen Street Photograpy. Doch im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Walker Evans oder Robert Frank arbeitet Herzog nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Farbe.

Damit begibt er sich auf schwieriges Terrain, denn technisch ist die Farbfotografie zu dieser Zeit noch nicht ausgereift. Die Farben der Papierabzüge verändern sich, verblassen, wirken künstlich. Aber auch ästhetisch gilt Farbe als fragwürdig. Sie schmeckt nach Werbung und Hollywood, nach Kitsch und Kommerz. Noch 1974 urteilte Walker Evans, die Farbfotografie sei schlichtweg vulgär. Seit den vierziger Jahren gilt sie zudem als eine Domäne der Amateure. Man stürzt sich auf die neuen Kodachrome-Diafilme, um Familienfeste und Urlaube für Nachbarn und Nachwelt festzuhalten. Der Diaabend entwickelt sich zur beliebten Freizeitunterhaltung.

Einfach praktisch

Über einen Nachbarn kommt auch Herzog zur Farbe. Kodachrome erscheint ihm einfach praktisch, denn beim Schwarz-Weiß-Film geht die Arbeit nach dem Fotografieren in der Dunkelkammer weiter, um vom Negativ einen wirklich guten Abzug herzustellen. Beim Dia wird diese Prozedur wird von Kodak übernommen. „Ich bekam 36 schöne Dias zurück, und fertig war das Ganze.“

Auch Herzog präsentiert seine Farbaufnahmen lange Zeit mit Hilfe von Projektor und Leinwand, vor allem an Colleges und Schulen. Erst die neuen Möglichkeiten der digitalen Technik haben es ihm jetzt ermöglicht, von seinen Dias großformatigere Abzüge in hoher Qualität anzufertigen. Rund vierzig dieser Prints sind jetzt bei C/O Berlin zu sehen. Es hätten gerne noch ein paar mehr sein können in dieser deutschlandweit ersten Ausstellung des 1930 in der Nähe von Heilbronn geborenen Fotografen. Die Schau demonstriert, dass es schon vor den US-amerikanischen Protagonisten der New Color Photograpy der siebziger Jahre, vor William Eggleston und Stephen Shore, im fernen Kanada einen Pionier gab, der die Möglichkeiten dokumentarisch orientierter Farbfotografie mit großen Erfolg ausgelotet hat.

Herzogs erste Bilder entstehen noch im vom Krieg gezeichneten Deutschland, doch hier sieht er keine Zukunft für sich. Er kehrt den Ruinenlandschaften den Rücken und wandert 1952 nach Kanada aus. In Vancouver gründet er eine Familie, arbeitet als medizinischer Fotograf im Krankenhaus. Später wird er auch an der University of British Columbia Fotografie lehren.

In der Freizeit erkundet Herzog mit der Kamera das Alltagsleben in seiner neuen Heimat. Es sind die unspektakulären Ansichten und flüchtigen Momente, die ihn interessieren: Ein Mann, der offensichtlich vor kurzem in eine Schlägerei verwickelt war, steht mit bandagierter Hand an der Bushaltestelle. Aus sicherem Abstand wird er misstrauisch von einer älteren Dame beäugt. Zwei Jungen sitzen an einer Straßenecke und leeren eine Flasche Limonade. Ein Kioskbesitzer ist völlig in die Lektüre eines Comics versunken. Nur ganz selten sind sich die Menschen vor Herzogs Leica bewusst, dass sie fotografiert werden.

Overkill an Zeichen

Wie ein Anthropologe studiert er das Treiben in den Straßen und Vergnügungsparks, fotografiert Schaufenster von Junk Shops, Friseursalons, Schnellrestaurants. Und immer wieder Neonreklamen, Ladenschilder und Cola-Werbungen, die für Farbe auf dem ausgeblichenen Grau der Hausfassaden sorgen. Gerade dieser Overkill an Zeichen, die in Rot, Gelb und Blau nach Aufmerksamkeit schreien, wirkt dank Kodachrome besonders lebendig. Vancouver liefert Herzog bis in die frühen Siebziger hinein ein schier unerschöpfliches Reservoir an Motiven. Im Laufe der Jahre wächst sein Stadtarchiv auf 80.000 Aufnahmen.

Der Fotograf spricht von einem Auftrag, den er sich damals selbst auferlegt hat. Es ging ihm schlichtweg darum, seine Umgebung und seine Zeit so festzuhalten, wie er sie erlebte. Herzogs beliebteste Reviere waren dabei die Viertel der Arbeiter und Einwanderer, China Town oder die Granville Street mit ihren zahlreichen Kinos und Bars. Hier entstand auch eines seiner stärksten Bilder: Ein älterer Mann im braunen Anzug steht im Halbschatten eines Hauseingangs und beobachtet, die Zigarettenspitze in der Hand, die vorbeieilenden Passanten. Ein Flaneur, der ganz entspannt den Fluss des Lebens beobachtet. Der genau wie Fred Herzog weiß, dass dies eine ziemlich spannende und farbige Angelegenheit sein kann – wenn man nur richtig hinschaut.

■ Bis 9. Januar 2011, täglich 11 bis 20 Uhr, C/O Berlin, Katalog (Hatje Cantz) 29,80 €