Keine Herzen aus Eis

CONCHITA WURST Der Eurovision Song Contest und die taz: ein journalistisches Avantgarde-Projekt, erfolgreich inzwischen im Print wie besonders auf taz.de

■ Hinweis zur InterviewpartnerinSo erfolgreich wie dieses Jahr liefen die Texte zum Eurovision Song Contest noch nie bei taz.de. Allein der Liveticker vom Finalabend wurde über 130.000 Mal geklickt und landet damit unter den Top-10-Texten der letzten zwölf Monate.

■ Fast 25.000 Mal wurde die Analyse „Huch, Abendland!“ aus der Europa-taz vom 2. Mai gelesen, die sich mit dem „schwulen und dekadenten“ ESC als Zumutung für Rechte und Rechtspopulisten in Europa befasste. Besonders in den sozialen Medien fand der Text heftige Verbreitung.

■ Auch die tägliche Onlinekolumne #Queerjungfrauen aus Kopenhagen wurde gut angenommen. Wir schließen daraus, dass der ESC auch für die Onlineleserschaft der taz als musikalisches und politisches Ereignis an Bedeutung stark gewonnen hat. (pw)

VON INES POHL

Seien wir doch ehrlich: Der Grand Prix Eurovision de la Chanson, der inzwischen Eurovision Song Contest (ESC) heißt, hatte in linken und linksalternativen Kreisen früher nie viele Freunde und Freundinnen. Man spottete und lästerte über den, so sahen es sehr viele, Wust an schlimmer Musik und unbegabten Auftritten. Dass der ESC auch anders gesehen werden kann – als Pop-Show Europas, als Performance-Spektakel – dass so etwas die Europäisierung gerade durch die Konkurrenz verfeindeter Länder fördert, haben uns inzwischen sehr viele unserer LeserInnen klar gemacht.

Gerade der Sieg von Conchita Wurst in Kopenhagen am vorigen Wochenende hat ein Umdenken bewirkt – der Zuspruch zu Texten in der Papierausgabe der taz, vor allem aber der zu den Geschichten, die zum ESC auf taz.de veröffentlicht worden sind, ist enorm gestiegen. Sehr wahrscheinlich hat auch dazu beigetragen, dass ein schwuler Mann in der künstlerischen Rolle einer Drag Queen gewonnen hat: ein Mensch mit politischer Botschaft, die vor allem auf Solidarität setzte. Eine Solidarität, die die nicht nur in Osteuropa grassierende Homophobie auf den Prüfstand stellte – und deren Intensität Millionen (auch von den taz-LeserInnen) spürten.

Die taz hat dieses Thema – Eurovision Song Contest und seine kulturellen wie politischen Qualitäten in einem nicht allein EU-haltigen Europa – als erstes überregionales Blatt wahrgenommen und ihm journalistische Sorgfalt gewidmet: Es war ein Thema gegen den alternativen Mainstream, es war Avantgarde. Nach kurzen TV-Kritiken in der taz schon 1989 bis 1996 begann die politische Wahrnehmung des Events umfänglicher 1997.

Diese Zeitung hatte gar 2003 in die deutsche Vorentscheidung zum ESC in Riga eine eigene Kandidatin unterstützt – die eritreischstämmige Sängerin Senait mit „Herz aus Eis“: Sie packte das Ticket in die lettische Hauptstadt nicht, aber dass sie Vierte wurde, lag nicht zuletzt auch am Support durch Sie, unser Publikum.

Nun ja, viele KollegInnen haben dieses eurovisionäre Europa-Pop-Ding nie gemocht; andere hingegen sehr – durchaus mit dem Bewusstsein, so etwas wie Avantgarde zu sein. Beteiligt waren und sind inzwischen viele RedakteurInnen, taz.de besonders, momentan auch Ralf Leonhard aus Wien (Conchita Wursts Heimatland) – und mein Kollege Jan Feddersen, Redakteur für besondere Aufgabe und als Reporter und Analyst in Kopenhagen wieder dabei.

Er verbittet sich – als schwuler Mann – im übrigen persönliche Glückwünsche zum Triumph von Conchita Wurst. Wie ich ja auch: Denn es war ja ein Eurovision Song Contest, der nicht durch das queere Publikum Europas zu einer bestimmten Siegerin kam, sondern durch Millionen Menschen, die in der Österreicherin auch ein Sinnbild für Freiheit, Respekt und Menschenrechte schlechthin erkannten.

Das werden auch jene taz-LeserInnen wertschätzen, die für dieses europäische Fest sonst geschmacklich gar keinen Sinn haben. Und das finde ich gut!