In sechs Wahllokalen abgestimmt

REFERENDUM Beobachter berichten von zahlreichen Unregelmäßigkeiten. Was das Ja zur Unabhängigkeit bedeutet, ist unklar. Russischer Journalist entführt

AUS DONEZK BERNHARD CLASEN

89 Prozent der Wähler in Donezk und 96 Prozent der Wähler in Lugansk haben am Sonntag für eine staatliche Eigenständigkeit der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag im Gebiet Donezk bei 90 Prozent, im Gebiet Lugansk zwischen 94 und 98 Prozent. Finanziert worden war die Abstimmung, so ein Aufständischer zur taz, mit freiwilligen Spenden. Besser hätte das vorläufige Endergebnis gar nicht ausfallen können.

Vorausgesetzt, die Angaben der Wahlkommissionen der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk entsprechen den tatsächlichen Ergebnissen und die Wahlen zum Referendum fanden weitgehend fair statt. Beobachter bezweifeln dies. So berichtete ein Bewohner von Donezk der taz, er habe am vergangenen Sonntag sechs Mal seine Stimme abgegeben. Aufgefallen sei dies niemandem, außer seiner Frau.

Schwierig sei der Betrug nicht gewesen. In den Wahllokalen hätten entweder überhaupt keine Wählerlisten ausgelegen oder sie seien veraltet gewesen. Wer nicht in einer Liste geführt worden sei, habe nur einen Nachweis seines Wohnsitzes im Gebiet Donezk vorzeigen müssen, um einen Stimmzettel zu erhalten.

Einer Journalistin, die am späten Sonntagabend wissen wollte, wo die Stimmzettel in den nächsten Tagen aufbewahrt würden, antwortete die Wahlkommission lapidar: „An einem sicheren Ort.“

Mehrfach war es bei der Abstimmung zu Zwischenfällen gekommen. Unweit von Donezk, in der Stadt Krasnoarmejsk, hatten Angehörige der Nationalgarde Stadtverwaltung und Miliz besetzt. Als aufgebrachte Bewohner der Kleinstadt vor diese Gebäude zogen, eröffneten die Nationalgardisten das Feuer. Mehrere Menschen wurden verletzt, zwei Demonstranten erlagen noch am gleichen Tag ihren Verletzungen.

Weitgehend unklar ist, was das Abstimmungsergebnis konkret bedeutet. Der Chef der zentralen Wahlkommission der „Volksrepublik Donezk“, Roman Ljagin, erklärte laut dem ukrainischen Nachrichtenportal Ukrainska Prawda am Montag, das Referendum sei lediglich eine Willensäußerung. Am Status des Gebietes Donezk werde sich absolut nichts ändern. Man bleibe weiterhin in der Ukraine, so Ljagin.

Unterdessen meldete das Onlineportal der russischen Zeitung Moskowski Komzomolets, dass in der Nacht von Sonntag auf Montag der Journalist der Moskauer Zeitung Nowaja Gaseta, Pavel Kanygin, von Unbekannten in Krasnoarmejsk entführt worden sei. Die Entführer hätten, so ein Kollege von Kanygin, ein Lösegeld von 1.000 US-Dollar verlangt. Die Summe sei den Entführern inzwischen übergeben worden, der Kollege sei jedoch immer noch nicht aufgetaucht.

Niemand wagt derzeit, Prognosen über die Zukunft der Gebiete Lugansk und Donezk unddas weitere Vorgehen von Kiew und Moskau abzugeben. Nach den über hundert Toten in den ersten Maitagen ist die Hoffnung gering, dass es zu keinen weiteren Opfern mehr kommen wird. Und man fragt sich, wie viele Opfer die beiden Seiten noch bereit sind in Kauf zu nehmen.

In Kiew scheint man sich inzwischen von dem Gedanken einer Beteiligung der Gebiete Donezk und Lugansk an den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai verabschiedet zu haben. Dafür spricht auch das Vorgehen der Kiewer Regierung in diesem Bürgerkrieg. Einheiten, die loyal zu Kiew stehen, hatten in der jüngsten Vergangenheit mehrfach mit leichten und schweren Waffen geschossen und sich nach wenigen Stunden wieder zurückgezogen. Eine Rückeroberung bestimmter Orte scheint man gar nicht mehr ins Kalkül zu ziehen. Offensichtlich geht es Kiew vor allem darum, eine Ausbreitung der „Volksrepubliken“ Richtung Westen zu verhindern. Und dies funktioniere am besten, so ein Beobachter, indem man die Aufständischen zwinge, vom Angriff zur Verteidigung überzugehen.