Zur Reparatur über die Grenze


AUS KLEVE HENK RAIJER

Das Leitmotiv hat es Barbara Bause angetan. „In den Niederlanden weiß der Patient selbst am besten, was gut für ihn ist“, schwärmt die frisch gebackene Projektleiterin des ersten euregionalen Selbsthilfebüros, das Anfang Oktober in Kleve seine Arbeit aufgenommen hat. „Während hierzulande die meisten Menschen vor Ärzten in Ehrfurcht erstarren, empfinden sich Patienten in Holland auf gleicher Augenhöhe mit dem Gesundheitsdienstleister. Niederländer sind generell aufmüpfiger und damit mündiger“, sagt Bause. Dies spiegele sich auch im Gesundheitssystem wider. In Holland arbeite man patientenorientiert, in Deutschland eher nachfrageorientiert. Bause: „Davon können wir hier noch ‘ne Menge lernen.“

Krankheit kennt keine Grenzen, Gesundheit, so Bause, solle daher grenzenlos sein. Zumal in einem eher peripheren Landstrich wie der Euregio Rhein-Waal im Nordwesten NRWs. Seit die AOK und Hollands größte Krankenkasse, die CZ Groep, vor sechs Jahren ein Kooperationsabkommen schlossen, das es Versicherten ermöglicht, sich im jeweils anderen Land behandeln zu lassen, gibt es einen regen Patientenverkehr von West nach Ost. Auch in entgegen gesetzter Richtung finden immer mehr Menschen aus Kleve, Emmerich oder Goch den Weg zum Arzt, ins Krankenhaus oder zu einer Selbsthilfegruppe in Gennep, Nijmegen oder Arnhem. Sei es, weil für die einen der Weg nach Duisburg oder Düsseldorf deutlich weiter wäre, sei es für die anderen wegen der Chance, sich beim Facharzt in Kleve kurzfristig einer Behandlung zu unterziehen, die im eigenen Land mit Wartezeiten verbunden wäre.

„Das sind erste Schritte zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung auf der Ebene der niedergelassenen Ärzte, der Krankenhäuser und der Versicherer“, sagt Barbara Bause. „Genauso wichtig aber ist es, die Perspektive der Nachfrager der Gesundheitsdienstleistungen in den Mittelpunkt zu rücken“, erklärt die Sozialpädagogin. Denn, so Bause, die seit 1978 beruflich im Gesundheitswesen engagiert ist: „Der Patient ist der Fachmann für seine Krankheit.“

Als Sachwalter seiner Interessen sehen sich der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW auf deutscher und Zorgbelang Gelderland auf niederländischer Seite. Das neue Selbsthilfebüro, das zunächst für einen Zeitraum von zwei Jahren von der EU, dem Land NRW und Krankenkassen beidseits der Grenze finanziert wird, ist beim Paritätischen in Kleve angesiedelt und dient als Anlaufstelle für alle Bürger, die Fragen zur gesundheitsbezogenen Selbsthilfe haben und in der Grenzregion Hilfe suchen.

Gut drei Jahre hat die Vorbereitungszeit in Anspruch genommen. In zwei Projektphasen haben Mitarbeiter der Paritätischen und der Vorgängerorganisation von Zorgbelang Gelderland die Unterschiede im Gesundheitswesen beider Länder inventarisiert und die Bedingungen für eine Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen im jeweils anderen Land ausgelotet. Zentrale Frage war dabei stets: Wie beanspruche ich Hilfe auf der anderen Seite? „Das Angebot soll ja für alle Versicherten zugänglich sein, nicht nur für die mit der größten Klappe, die zahlen können oder gewohnt sind, für ihr Recht einzutreten“, sagt Karin Kalthoff, die das Projekt für die Euregio koordiniert. Aufgabe des Selbsthilfebüros sei es daher, für mehr Transparenz und Durchlässigkeit zu sorgen und Patienten zu mobilisieren.

Kein überflüssiger Luxus, wie es scheint, weder in Nordrhein-Westfalen noch auf holländischer Seite. „Die Krankenversicherer in Holland informieren schlecht, fahren oft sogar eine Entmutigungspolitik“, moniert Patientenberaterin Wilma van ‘t Hul. „Dabei sind die Kassen verpflichtet, den Patienten auch beratend zur Seite zu stehen“, sagt die Mitarbeiterin von Zorgbelang Gelderland, das die Interessen von 400 Patientenvereinigungen in der ostniederländischen Provinz vertritt.

Die meisten der 133 bekannten Selbsthilfegruppen im Kreis Kleve, der knapp über 300.000 Einwohner zählt, sind Mitglied beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. „Auf die gehen wir zu“, sagt Projektleiterin Barbara Bause. „Das Selbsthilfebüro versteht sich als Bindeglied zwischen Leistungsanbieter und Patienten.“ Bei allen Unterschieden in der Patientenselbsthilfe in Holland und in Deutschland zeigen diese Organisationen großes Interesse an grenzüberschreitenden Kontakten und Kooperationen. Ob Osteoporose, Parkinson, Diabetis, Depression, Krebs, Trauer, Alkoholabhängigkeit oder Rheuma – Patienten beidseits der Grenze wollen sich austauschen, von einander lernen, sich vernetzen und eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit zu ihren oft chronischen Krankheiten begründen. Bause: „Wie man das macht, entdecken wir gerade zusammen mit den Patienten.“

Obwohl sich Hilfe- und Ratsuchende inzwischen im Internet zweisprachig über Spezialisten, Krankenhäuser, Versicherungsfragen und alternative Behandlungsmöglichkeiten „drüben“ informieren können, ersetzen solche Portale „natürlich nie das persönliche Gespräch. Unsere Kontaktstelle ist gut für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Wir machen hier zum Teil eben auch Lebensberatung, denn Krankheiten haben bei vielen Menschen tief greifende soziale Implikationen“, sagt Barbara Bause, die zu Beginn ihres Berufslebens bei der AOK gelernt hat und anschließend 13 Jahre im Krankenversicherungswesen tätig war. „Der Umgang mit Krankheitsbildern ist mir nicht fremd.“

Durchweg vertraut ist der Sozialpädagogin, die ihr späteres Studium an der Universität Nijmegen mit einer Diplomarbeit zum Thema Networking absolvierte, auch der häufig gänzlich andere Behandlungsansatz im Nachbarland. Beratung und Prophylaxe seien dort einfach anders definiert. Während in Deutschland Patienten häufig auf sich selbst gestellt sind, vor allem was die Nachsorge anbelangt, sieht das System beim EU-Nachbarn seit 2005 in Abstimmung mit dem Patienten eine lückenlose Versorgungskette von der Diagnose über die Behandlung bis zur Nachsorge vor. Die Krankenakte wandert mit einem vorher festgelegten Behandlungsplan und entsprechend eines errechneten Pflegebudgets automatisch von einer Station zur nächsten.

Um die Fachöffentlichkeit wie Krankenhäuser, Gesundheitspolitiker und Versicherer für andere als die bekannten Optionen zu interessieren, braucht es Pioniere: Patienten wie etwa den Mittfünfziger aus dem Kreis Kleve, der nach einem Schlaganfall von den fortschrittlichen Nachsorgetechniken an der Universitätsklinik Nijmegen gehört hatte und sich entschied, seine Reha jenseits der Grenze zu machen. „Der Mann hat eine bewusste Wahl getroffen und sich weder von der Grenze noch von den Vorbehalten seiner Krankenkasse einschränken lassen“, berichtet Euregio-Gesundheitsexpertin Karin Kalthoff. Er habe die Reha vorfinanziert und sie nach einigem bürokratischen Hickhack am Ende vom Versicherer ersetzt bekommen.

Solche Beispiele motivieren die Mitglieder von Selbsthilfegruppen. So erkundigen sich inzwischen organisierte Morbus-Bechterew-Erkrankte im Kreis Kleve im Internet nach den Bestimmungen in den Niederlanden, weil sie Kürzungen bei den Krankengymnastikleistungen fürchten müssen, die doch das Fortschreiten der Krankheit entscheidend bremsen können. Und Diabetiker interessieren sich für die Insulin-Zuzahlungen im Nachbarland. Das neue euregionale Selbsthilfebüro sieht es als seine Aufgabe an, die Unterschiede für die Menschen transparent zu machen und den Druck auf Politik, Gesundheitsdienstleister und Versicherer zu erhöhen.

„Der politische Wille ist ja da, und auch die Krankenkassen haben ein Interesse daran, ihre Mitglieder möglichst dort behandeln zu lassen, wo die Behandlung Erfolg versprechend und kostengünstig ist“, sagt Projektleiterin Barbara Bause. „Mündige Patienten, die sich selbst helfen oder als Selbsthilfegruppe aktiv werden, drücken schließlich die Gesundheitskosten.“

www.euregiogesundheitsportal.de und www.selbsthilfenetz.de