„Gespaltene Gesellschaft“

NEUER FOKUS Asiem El Difraoui zeigt im Buch „Das neue Ägypten“ Menschen, die am Rande stehen

■ 48, Politologe, Volkswirt und Dokumentarfilmer, ist Senior Fellow am Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik.

taz: Herr Difraoui, gibt es am 26. Mai wirklich demokratische Wahlen in Ägypten?

Asiem El Difraoui: Das ist die Frage: Befindet sich Ägypten in einer Phase der Restauration oder eines demokratischen Neuanfangs? Die Reduktion auf zwei Präsidentschaftskandidaten und der Ausschluss der Muslimbrüderschaft lassen eher daran zweifeln, dass es eine fantastische demokratische Übung ist.

Sondern?

Es ist zu befürchten, dass es Schauwahlen sind, um Al-Sisi, den starken Mann des Militärs, zu legitimieren. Wobei er einen enormen Rückhalt im Volk hat. Ägypten hat keine große demokratische Kultur.

War die Wahl des Muslimbruders Mursi, den das Militär im Juli 2013 absetzte, ein Irrtum?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß aber, dass es eine gigantische Erwartungshaltung gab, die schwer enttäuscht wurde. Nicht nur, weil Mursi Wahlversprechen brach, sondern auch wegen der hierarchischen, verkrusteten Struktur der Partei.

Für Ihr Buch „Ein neues Ägypten“ sind Sie quer durchs Land gereist. Was haben Sie gesucht?

Da ich schon viel akademisch über Ägypten geschrieben hatte, wollte ich diesmal die Bedürfnisse des Volkes, von Menschen jenseits der Schlagzeilen ergründen.

Welche zum Beispiel?

Die Nubier in Oberägypten sind eine Ethnie, die unter dem Bau des Assuan-Staudamms sehr gelitten hat und immer noch hofft, ans Nilufer zurückzukehren. Dann gibt es die Beduinen im Nord-Sinai, die um Gleichberechtigung und wirtschaftliche Teilhabe kämpfen. Dann die Kairoer Unterschicht. Die Angehörigen der Sicherheitskräfte, die oft Täter und Opfer zugleich sind. Ägypten ist eine extrem gespaltene Gesellschaft.

Inwiefern?

Vor allem aufgrund der Kluft zwischen der im Klientelismus verhafteten Oberschicht, die die Bedürfnisse des normalen Volkes nicht kennt, und der Masse.

Wie groß ist der Einfluss des Westens?

Den Westen interessieren vor allem drei Dinge: dass keine Flüchtlingsströme nach Europa kommen, dass der Suez-Kanal funktioniert und dass der kalte Frieden mit Israel respektiert wird. Solange das der Fall ist, kooperiert der Westen mit jedem Regime. Sollte es allerdings Hunderttausende von Toten geben, würde dieses Arrangement für westliche Demokratien nicht mehr gelten.  INTERVIEW: PS

Asiem El Difraoui liest aus „Ein neues Ägypten“: 19.30 Uhr, Zentralbibliothek, Hühnerposten 1