Nach den Taliban, vor der Befreiung

Unter den Taliban waren afghanische Frauen völlig vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Daran hat sich in den letzten fünf Jahren wenig geändert. Zwar gibt es ein Frauenministerium und Frauenbeauftragte in den Provinzen. Doch die vom Westen immer wieder zur Legitimation des Feldzugs gegen die Taliban angeführte Argument, die afghanischen Frauen befreien zu wollen, wurde nicht umgesetzt.

Am meisten leiden die Frauen unter der häuslichen Gewalt. Laut einer Studie von Unifem, für die über 1.300 Fälle untersucht wurden, geht die Gewalt in 80 Prozent von Ehemännern oder nahen Verwandten aus. Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission AIHRC verzeichnet eine wachsende Zahl sogenannter Ehrenmorde. 47 Fälle wurden im letzten Jahr dokumentiert, die Dunkelziffer soll mehr als das Hundertfache betragen.

60 bis 80 Prozent der Ehen in Afghanistan sind Zwangsehen. Laut AIHRC sind mehr als die Hälfte der Frauen unter 16 Jahre alt, wenn sie verheiratet werden. Viele Frauen sehen im Selbstmord den einzigen Ausweg, die meisten von ihnen verbrennen sich selbst. Nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Womankind Worldwide stieg die Zahl der Selbsttötungen vor allem in Westafghanistan in den letzten drei Jahren drastisch an.

Frauen sind noch heute wirtschaftlich abhängig von ihren Ehemännern. Vor allem für die vielen Kriegswitwen und -waisen ist nicht gesorgt, allein in der Hauptstadt Kabul leben schätzungsweise 50.000 von ihnen.

Nur jede zehnte Afghanin kann lesen und schreiben. Immerhin haben internationale Hilfsprojekte dafür gesorgt, dass im letzten Jahr 500.000 Mädchen eingeschult wurden. Der im Januar von den Geberländern in London beschlossene Entwicklungsplan hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Bis 2010 sollen 60 Prozent der Mädchen eine Schule besuchen, die Zahl weiblicher Studentinnen soll auf 35 Prozent steigen. Die zunehmende Gewalt in den Provinzen führt derzeit jedoch eher zum Gegenteil: Im ersten Halbjahr 2006 hat sich die Zahl der Angriffe auf Schulen im Vergleich zum Vorjahr versechsfacht, meist werden die Gebäude einfach angezündet. Unicef schätzt, dass in den vier südlichen Provinzen derzeit über 100.000 Kinder nicht unterrichtet werden, weil ihre Schulen geschlossen sind.

Vor allem Frauen und Kinder leiden unter der schlechten medizinischen Versorgung. Die Kindersterblichkeit ist 40-mal so hoch wie in Industrieländern. Laut Unicef erlebt jedes vierte afghanische Kind nicht seinen 5. Geburtstag. 2 von 10 Frauen sterben während oder nach der Geburt ihres Kindes. ANETT KELLER