Inessas Sommer

Tausende Kinder aus benachteiligten Regionen kommen Jahr für Jahr nach Deutschland. Die Annäherung an die fremde Kultur ist nicht immer einfach

VON MARTINA DREISBACH

Als der weiße Bus um die Ecke biegt, geht ein Raunen durch die Menge. Alle beginnen zu winken, die Kinder im Bus und die Erwachsenen vor der Kirche. Sie sind da. Gänsehaut und Dankbarkeit, das Flugzeug aus Minsk ist gut angekommen. Rosa Haarspangen, Zöpfchen, T-Shirts und Trainingsjacken steigen aus. Zwanzig Mädchen und Jungen zwischen neun und siebzehn Jahren suchen ihr Gepäck. Die Sonne scheint. Die Tschernobylkinder sind da.

Das ersehnte Fenster zum Osten heißt Inessa. Sie ist groß und hat blaue Augen und schulterlange, hellbraune Haare. Inessa sieht gesund aus, wenn auch etwas blass. Sie hat eine schwarze Reisetasche in der Hand und schwarze Segeltuchschuhe an den Füßen. Sie steht zwischen vielen anderen Kindern am Bus und blickt unsicher um sich.

Inessa ist elf Jahre alt und spricht etwas Englisch, das hatte sich die Gastmutter gewünscht. Sie kommt wie die anderen auch aus Berjosowka, einem Ort im Westen Weißrusslands, der vor 20 Jahren vom Reaktorunglück in Tschernobyl getroffen wurde. Hier hat man radioaktive Wolken zum Abregnen gebracht, ein Versuch der sowjetischen Regierung, den GAU zu verschleiern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde es ein eigenständiger Staat mit dem Diktator Alexander Lukaschenko an der Spitze. Das Land ist zu weiten Teilen verstrahlt. Welche Spätfolgen das für die dort lebenden Kinder haben wird, kann man nicht genau sagen.

„Hello, my name is Inessa“, sagt das Mädchen. Sie wird dreieinhalb Wochen bei der deutschen Familie bleiben. Die erste Umarmung will nicht glücken, denn Inessa lässt ihre Tasche nicht los. Sie versucht ein Lächeln, aber sie ist sehr aufgeregt. Der erste Flug, die Autobahn, die Skyline von Frankfurt am Main, die sie auf dem Weg nach Friedrichsdorf am Taunus passierten: alles ist neu. Am frühen Morgen noch war sie mit einem Bus über holprige Straßen zweihundert Kilometer zum Flughafen in die Hauptstadt Minsk gefahren. Tränen beim Abschied von Mutter und Schwester. Jetzt ist sie erschöpft.

This is your room, Inessa. Do you want to drink something? Are you hungry?“ Auch die Gastmutter ist wie aufgedreht. Endlich hat sie ein Tschernobylkind. Als sie Jahre zuvor zum ersten Mal von der Gemeinschaftsaktion der katholischen und der methodistischen Kirchengemeinde gehört hatte, war sie sofort Feuer und Flamme. Noch aber waren ihre eigenen Kinder erst vier Jahre alt und zu klein. Mit Neugier hatte sie die weißrussischen Kinder auf dem Spielplatz beäugt, die fremde Sprache gehört, darauf gewartet, dass auch sie ein Kind einladen könnte. In diesem Jahr, 1998, hat sie nun endlich ein eigenes Gastkind.

Inessa packt ihre schwarze Tasche aus. Wenige Kleider nur, keine Schuhe, außer denen, die sie trägt, dafür viele Pakete in grauem Papier. Sechs Weingläser, sechs Schnapsgläser, üppig geschliffenes Kristall, und eine Karaffe kommen zum Vorschein. Vorsichtig fragt die Gastmutter nach Inessas Familie. Ihre Mutter arbeitet in der Glasfabrik Neman, die nach dem Fluss benannt ist, an dem Berjosowka liegt. Im Neman ist Inessas Vater ein Jahr zuvor ertrunken. „He swim and drank“, sagt sie nur.

Sie sitzt jetzt mit den zwei Töchtern der Gastfamilie am Tisch und isst Kartoffeln, Kartoschka, Hackbraten und Salat, zum Nachtisch Eis. Sie geht langsam durch die Wohnung, betrachtet das Badezimmer, die Dusche. Abends stellt sie das Foto ihrer Mutter, einer schönen Frau mit melancholischen Augen, auf den Nachttisch und schläft ein. Ein späterer Blick auf ihr Gesicht zeigt, dass sie geweint hat. Die große Vorfreude auf Deutschland scheint verflogen. Inessa hat Heimweh.

Die Telefonleitung nach Weißrussland knackt und rattert. Eine Frau meldet sich. „Hello, this is Germany, Inessa wants to talk to you.“ Die Antwort der Mutter ist kurz und wird für immer unvergesslich bleiben. „Hallo, danke für meine Tochter“, sagt eine wohlklingende Stimme warmherzig.

Die „Aktion Tschernobyl“ im hessischen Friedrichsdorf ist eine von vielen in ganz Deutschland. Tausende Kinder kommen Jahr für Jahr zur Erholung. Die ersten Kinder kamen 1989, drei Jahre nach dem GAU, über die von beherzten Weißrussen gegründete Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ in Minsk.

Zwei Betreuer sind dabei, eine ältere Frau und ihr Sohn, beide sprechen perfekt Deutsch. Sie gehen mit den Kindern schwimmen und begleiten die von der Gemeinde organisierten Ausflüge in den Zoo, in ein hohes Bankengebäude in Frankfurt und in einen Vergnügungspark. Lange vorher haben die Vorbereitungen begonnen. Jede Gastfamilie bekam ein Blatt mit Name, Geburtstag und Heimatadresse der Kinder und einen Vergnügungsplan. Beim Besprechungsabend im katholischen Gemeindezentrum war zu hören, die Kinder seien nicht anders als hier. Gesunde Ernährung sei wichtig und der Eindruck eines freien Landes. „Sie werden ihren Aufenthalt in Deutschland nie vergessen. Geben Sie den Kindern Fotos von ihren Tagen hier mit, sie werden sie einkleben und den Winter über wieder und wieder anschauen“, sagte der Pfarrer.

Am Vormittag, am Tag nach der Ankunft, treffen sich die Kinder in der St.-Bonifatius-Kirche, einem modernen Bau mit großem Foyer, in dem sie bei Regenwetter auch Inline-Skates fahren dürfen. Frauen aus der Gemeinde richten Obstplatten her, schenken Saft aus. „Banane“ und „Saft“ sind Zauberworte. Ein Berg von Spielen liegt für die Kinder bereit. Als die Lokalzeitung kommt, stellen sie sich artig auf, der Fotoapparat klickt. Alle lachen. Die Disziplin der Kinder ist bemerkenswert. Sie gehorchen der Betreuerin aufs Wort. Keines würde dazwischenreden, wenn sie spricht. Inzwischen haben sie neue T-Shirts bekommen und neue Schuhe, das Geld dafür stammt von Spenden der Gemeinde. Auch auf der Straße sind sie gar nicht mehr zu unterscheiden von anderen Kindern.

Schnell wird der Gastmutter klar, dass es mit Inessas Englisch nicht weit her ist. Drei Sätze kann sie, mit dem Verstehen hat sie Schwierigkeiten. Sie spricht wenig und lacht selten. Die mit Spannung erwarteten Erzählungen von Belarus bleiben aus, das Englisch gibt sie nicht her. Die Gastmutter erfährt, dass sich der Sprachunterricht in Weißrussland auf das Erlernen und Abfragen von Vokabeln beschränkt. Kommunikation ist nicht vorgesehen. Das Fenster zum Osten öffnet sich nur spärlich. Inessas Heimweh dauert die erste Hälfte des dreiwöchigen Aufenthalts an. Erst lange Telefongespräche, bei denen ihre Mutter sanft auf sie einredet, helfen. „Das geht vorbei, das passiert oft beim ersten Mal“, tröstet die Betreuerin, „aber das wird dann besser.“ Auch der Kontakt zu den Gastkindern ist spärlich. Der Altersunterschied scheint zu groß.

Sommeraufenthalte im Westen stärken das angegriffene Immunsystem der Kinder. Der Winter in dem armen Land ist lang, die Versorgung mit Vitaminen miserabel. Sie leben von Kartoffeln und eingelegtem Gemüse. Aber alle sind schlank, die meisten gesund, allein der Zustand der Zähne ist bejammernswert. Der erste Besuch beim Zahnarzt wird zum Drama. Zitternd liegt das Mädchen im Stuhl. Offenbar hat es daheim schreckliche Erfahrungen mit dem Zahnarzt gemacht. Zumeist werden dort von Karies befallene Zähne einfach gezogen.

Nach der Hälfte der Zeit wird Inessa lebhaft. Sie hat sich erholt. Das Heimweh ist verflogen. Sie beginnt, Deutschland zu lieben. Das Freibad mit der langen Rutsche, den Aufzug im Haus, das Auto mit den elektrischen Fensterhebern. Sie genießt die Einkäufe im Supermarkt und wählt Geschenke für die Mutter und die Schwester aus, wohlriechende Deos, Seidenstrümpfe, Tütensuppe mit Waldpilzgeschmack und Gummibärchen. Wenn sie mit der Mutter telefoniert, sprudelt es nur so aus ihr heraus. Mit der Zeit wird klar, dass Westaufenthalte keine Sprachreisen sind. Sie wird noch zwei Sommer wiederkommen und kein Wort Englisch dazugelernt haben.

Als nach einer Pause von zwei Jahren Nadja und Genya kommen, geht alles viel leichter. Sie sind elf Jahre alt wie damals Inessa, aber ebenso alt wie die herangewachsenen Gastgebertöchter. Das Miteinander lässt sich sofort gut an. „Don’t spring“, ruft das deutsche Kind vom Kirschbaum hinunter, „Yes, I do“, kommt es zurück. Die vier verständigen sich mit Händen und Füßen. Die Idee, zwei Kinder einzuladen, war richtig. Zwar sitzt jetzt eine russischsprechende Fraktion am Tisch, die aber fühlt sich pudelwohl. Vielleicht sind Kinder in Weißrussland in den letzten Jahren auch selbstbewusster geworden. Durch die geöffnete Zimmertür sind die fremden Laute zu hören. Abends sitzen die Mädchen auf dem Bett und schreiben Tagebuch oder unterhalten sich mit den deutschen Freundinnen.

Knutziwuff, ein riesiger Plüschhund von der Kirmes, ist der Hit des Sommers wie auch die Scoubidoos, gerade angesagte Plastikstrippen, mit denen alle vier einträchtig herumflechten. Wieder gibt es das Programm, wieder Schwimmbad, diesmal ein Musical, wieder den Vergnügungspark. Wieder sagt eine mütterliche Stimme am Telefon: „Danke für meine Tochter.“ E-Mails in antiquiertem Deutsch, mühsam aus dem Wörterbuch zusammengesucht, treffen ein. „Wir neigen uns in Dankbarkeit, wir lieben euch“, heißt es da. Wer schrieb je schönere Briefe. Nadja und Genya bringen Fotos aus Berjosowka mit. Vierstöckige Plattenbauten recken sich zwischen Kiefern empor. Hier der Großvater mit Fellmütze im Winter, dort die Mädchen mit ihren Eltern vor dem Weihnachtsbaum. Die Glassammlung nimmt die Ausmaße einer Aussteuer an. Kristallene Whiskeygläser, wieder Schnapsgläser, Kerzenleuchter, Glastiere, aber auch Tischwäsche und Pralinen werden mitgeschickt. Die Eltern geben sich alle erdenkliche Mühe, ihr Glück auszudrücken.

Drei Sommer lang kommen auch diese beiden. Auch ihr Englisch wird um keinen Deut besser. Auch ihnen lässt sich nicht viel von Deutschland erzählen. Beim Abschied weinen alle. Jetzt aber zeigt sich ein Lichtstreifen am Horizont. Die deutschen Gastgebermädchen haben mit der dritten Fremdsprache begonnen. Es ist Russisch, das Fenster zum Osten. Also, nächstes Jahr in Berjosowka.

MARTINA DREISBACH, Jahrgang 1959, lebt in Friedrichsdorf im Taunus. Sie ist freie Journalistin und Lyrikerin. Heute, am Martinstag, wird der Ost-West-Bürgerbewegung „Den Kindern von Tschernobyl“ der Martini-Preis der südpfälzischen SPD übergeben