„Es war ein Taumeln zwischen den Ideologien“

SCHWEIGEN ODER REDEN Günter Lucks zog als SS-Kindersoldat in den Krieg, obwohl seine Familie kommunistisch war. Nach der Gefangenschaft kam er zurück in ein Land, in dem niemand Nazi gewesen sein wollte

■ 86, wurde in Hamburg geboren. Bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 waren seine Eltern in der kommunistischen Bewegung aktiv und verkehrten mit KPD-Größen wie Etkar André und Ernst Thälmann.

■ Ende 1944 wurde der 16-Jährige zu einer Grundausbildung der Wehrmacht nach Böhmen geschickt. Im April zog sein Bataillon Effenberger an die Front nördlich von Wien. Vier Wochen lang musste er kämpfen, bis er in sowjetische Gefangenschaft geriet.

■ Nach einer fünf Jahre langen Irrfahrt durch elf Lager im Baltikum und Russland kehrte er 1950 nach Hamburg zurück. Zusammen mit dem Journalisten Harald Stutte schrieb er zwei Bücher: „Ich war Hitlers letztes Aufgebot“ und „Hitlers vergessene Kinderarmee“.

■ Günter Lucks lebt heute mit seiner Ehefrau in Hamburg-Horn.

INTERVIEW MAI-BRITT WULF

taz: Herr Lucks, warum sind Sie Anfang 1945 noch in den Krieg gezogen?

Günter Lucks: Als ich 16 war, habe ich mich aus Pflichtgefühl beim Wehrbezirkskommando gemeldet. Die NSDAP rief 1944 zum Volkssturm auf. Alle Männer zwischen 16 und 60 sollten kämpfen.

Also war es eine freiwillige Entscheidung?

Freiwillig ist das falsche Wort. Ich war damals naiv und dachte, dass ich nach der militärischen Ausbildung wieder nach Hause dürfte. Wir dachten, der Krieg würde nicht mehr lang dauern. Und ich glaubte der NS-Propaganda und wollte meinen Beitrag zur Landesverteidigung leisten. Auch wenn es seltsam klingt: Der Krieg bot mir eine Möglichkeit, von Zuhause auszubrechen. Ich hatte meinen Bruder im Feuersturm verloren. Unsere Wohnung war zerbombt und wir lebten zu fünft in einem Ruinenkeller. Im Grunde war es ein Aufstand gegen mein kommunistisches Elternhaus, aber eben auch der allgemeine Trend.

Waren Sie überzeugt von Hitler?

Es war ein Taumeln zwischen den Ideologien. Ich war zerrissen zwischen dem Sozialismus und dem Nationalsozialismus. Einerseits wollte ich wie meine Klassenkameraden sein. Viele trugen schon Uniformen der Hitlerjugend. Ich spielte mit Elastolin-Figuren, die wie Goebbels und andere Nazis aussahen. Mein Vater warf die Figuren wütend in den Ofen. Er war überzeugter Kommunist und Mitglied in der KPD. Mein Großvater war ein sehr wichtiger Einfluss für mich. Er war auch Kommunist und brachte mir die kommunistischen Lieder bei. Die summte ich, wenn wir in der Hitlerjugend marschierten. Rückblickend ist mir klar geworden, dass ich eigentlich immer sozialistische Gedanken hatte.

Wie sind Sie dann zur Waffen-SS gekommen?

Nach unserer militärischen Ausbildung wurde unser gesamter Lehrgang der Waffen-SS zugeteilt. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, aber traute mich auch nicht, dagegen zu protestieren.

Sie wurden Anfang Mai in Tschechien verletzt und auf einen Lazarettzug Richtung Deutschland verladen. Dort kamen Sie aber nicht an.

Der Krieg war vorbei und im Zug hörten wir von der Kapitulation. Unser Zug stand tagelang im Nirgendwo und wir wussten nicht, wie es weitergeht. Mitte Mai kam ein amerikanischer Offizier und sagte, dass alle leicht Verletzten Richtung Osten, also zu den Russen, marschieren müssen. Obwohl ich kaum laufen konnte, musste ich raus. Das hat mir das Leben gerettet.

Warum?

Mir wurde während der Ausbildung meine Blutgruppe in den Arm tätowiert. Das war das Zeichen der Waffen-SS. Wer nach Kriegsende deutsche Uniformen trug, lebte gefährlich, zudem als ehemaliger SS-Soldat. Der Lazarettzug wurde auf seiner Rückfahrt nach Deutschland von tschechischen Milizen gestoppt, und sie erschossen alle SS-Angehörigen mit der Blutgruppen-Tätowierung.

Wie haben Sie in der russischen Kriegsgefangenschaft die Nazizeit verarbeitet?

Die älteren Kriegsgefangenen interessierten sich nicht für Politik. Bei ihnen war das NS-Gedankengut zu tief verankert. Aber wir Jüngeren waren wissbegierig und wollten Aufklärung. Ich kam ja aus einem sozialistisch geprägten Elternhaus und kehrte sozusagen in den Schoß dieser Ideologie zurück. Also setzte ich mich mit dem Sozialismus auseinander. Der Lagerkommandeur bot mir sogar an, auf eine Antifa-Schule zu gehen. Aber mir war das alles zu einseitig, der Sozialismus und die NS-Ideologie. Ich wollte kontrovers diskutieren und dass so was wie mit Hitler nie wieder passiert. Demokratie kannte ich ja noch nicht.

Was haben Sie erzählt, als Sie 1950 zurückkehrten?

Ich habe nicht darüber gesprochen, dass ich in Gefangenschaft war. Ich habe einfach wieder am Leben teilgenommen. Die wenigen Leute, die es erfahren haben, konnten es kaum glauben. Ich sah ja noch mit 21 Jahren so jung aus. Ich wollte das verdrängen.

Was haben Sie gemacht?

Ich bin wieder zur Post gegangen. Vor dem Krieg habe ich eine Ausbildung bei der Post gemacht. Aber ich konnte es nicht mehr aushalten, dass wir Uniform tragen mussten. Uniformen haben mich abgestoßen. Dann habe ich beim Axel-Springer-Verlag als Drucker angefangen.

Gab es etwas, dass Sie überrascht hat nach Ihrer Rückkehr?

Vor dem Krieg waren 85 Prozent für Hitler. Als ich aus dem Krieg zurückkehrte, war die Begeisterung weg und alle taten so, als wären sie nie für Hitler gewesen.

Ärgert Sie das?

Das ärgert mich nicht, das ist menschlich. Die meisten Menschen wollen mit dem Strom schwimmen. Was mich ärgert ist, dass diejenigen, die nun wirklich Dreck am Stecken haben, oft nach dem Krieg in Führungspositionen beschäftigt waren. Ich musste als kleiner Bubi fünf Jahre lang Steine klopfen. Während der Gefangenschaft haben wir auch Zeitungen gelesen, und auf den Bildern sah man lauter wehrpflichtige Männer in den Fußballstadien sitzen. Die waren alle älter als ich, sind wahrscheinlich nach Russland einmarschiert und standen da und jubelten beim Fußball. Das kann ich bis heute nicht verstehen. Ich habe überhaupt nichts gemacht, das habe ich auch dem russischen Vernehmungsoffizier gesagt. Ich bin nicht in die Sowjetunion einmarschiert, war nur vier Wochen Soldat. Ich wollte nach Hause.

Was hat der russische Offizier dazu gesagt?

Du warst nicht zu klein, ein Gewehr zu tragen, und jetzt bist du nicht zu klein für die Schaufel. An die Arbeit!

Was haben diese Erfahrungen bei Ihnen bewirkt?

Ich habe mich von der Politik abgewendet. Man kann sagen, ich bin Pazifist geworden. 1955 habe ich eine Einladung der Bundeswehr, ihr in Gründung als Offizier beizutreten, abgelehnt. Stattdessen habe ich meine ganze Energie für die Gewerkschaftsarbeit aufgewendet. Ich bin Betriebsratmitglied geworden, weil ich mich für die einfachen Menschen einsetzen wollte. Aber ich habe auch verstanden zu leben. Ich habe an der Rotationsmaschine während der Nachtschichten autodidaktisch Französisch gelernt. Meine Frau und ich haben schöne Frankreichreisen gemacht. Ich bin ein Gourmet. Ich habe das Leben genossen und wollte eigentlich nie wieder von diesen Sachen hören.

Aber Sie sprechen heute sogar vor Schulklassen darüber.

Ich habe vorher kaum darüber gesprochen. Nur ein wenig mit meiner Frau, aber ich wollte sie nicht mit meinen Erinnerungen belasten. Ich kann auch verstehen, dass andere nicht darüber reden. Aber die Jugend hat ein Anrecht zu wissen, was damals geschah und warum.

Gab es einen Auslöser für Ihre Entscheidung, zu erzählen?

Mein Sohn fragte mich, warum jedes Mal, wenn ein Löffel auf mich zeigte, ich ihn beiseite drehte. Das war mir nicht bewusst. Aber mir fiel ein, als ich verwundet im Lazarettzug lag, war da auch ein russischer Soldat. Er war anscheinend wahnsinnig und feuerte wild mit seiner Maschinenpistole um sich. Und dann hielt er mir die warme Waffe an den Kopf und schlug sie mir immer wieder dagegen. Immer, wenn nun etwas auf mich zeigte, dann kam der Reflex. Mein Sohn ermunterte mich, alles aufzuschreiben.

Schmerzt es Sie, über Ihre Vergangenheit zu sprechen?

Es tut jetzt nicht mehr weh, darüber zu sprechen. Ich habe die Hemmschwelle überwunden. Über den Tod meines älteren Bruders im Feuersturm zu sprechen, das fällt mir immer noch schwer. Albträume habe ich auch nicht mehr, nur wenn ich zu viel gegessen habe.

„Hitlers vergessene Kinderarmee“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2014, 277 S., 9,99 Euro

„Ich war Hitlers letztes Aufgebot. Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2010, 303 S., 9,99 Euro

Lesung mit Günter Lucks: Mo, 12. 5., 19 Uhr, Hamburg, Stadtteilarchiv Hamm, Carl-Petersen-Str. 76