„Wo ist der ganze Sinn hin?“

PREMIERE In „Der Freund krank“ gießt Felicitas Brucker die Sinnlosigkeit des Alltags in elementare Fragen. Text und Ensemble vereint sie am Schauspiel Hannover zu einer Tristesse, die wahrlich Freude macht

Grundlos kommt ein Mittdreißiger zurück in seine Heimatstadt. Arbeitslosigkeit und Gleichförmigkeit schlagen ihre Schneisen durch die Kleinbürgerlichkeit. Mirko, ein Jugendfreund des Besuchers reagiert auf seine Perspektivlosigkeit seit Monaten mit absoluter Handlungsverweigerung. Seine Frau Nora muss ihn wickeln, waschen, füttern. Am Samstag feierte „Der Freund krank“ Premiere in Hannover. Es ist bereits der dritte Stoff des Autors Nis-Momme Stockmann, den das Schauspiel Hannover zur Aufführung bringt.

Diese Inszenierung der Regisseurin Felicitas Brucker kommt wenig monumental daher. Brucker hat es dennoch geschafft, Theater zu machen, das elementare Fragen nach Bedeutung und Bedeutungslosigkeit aufwirft und trotzdem Lust bereitet.

„Wo ist denn der ganze Sinn hin?“, fragt sich Nora, die ein Kind erwartet. Das weiß auch der Protagonist nicht. Ohne Plan ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Ob er bleiben und Nora helfen oder gehen sollte, kann weder er sich, noch Nora ihm beantworten. Dann zieht der Moment an ihm vorbei, in dem er noch hätte gehen können.

Die Bühne in der Cumberlandschen Galerie ist dunkel und grau gehalten. Per Videoprojektion lässt sich Mirko überlebensgroß beim Atmen und Dahinsiechen beobachten. Zahlreiche Details auf der Bühne öffnen immer weitere Ebenen: Ein Glaskasten, der zum Sarg wird. Kleine orangefarbene Kügelchen am Boden, die für allerlei Gefühlsausbrüche herhalten müssen. Den Rhythmus gibt ein wortloser Boxer vor, indem er immer wieder auf eine Wand einschlägt.

Der Heimgekehrte, der namenlos bleibt, ist überfordert von der Konfrontation mit seiner Vergangenheit. Plan- und willenlos schaut er Nora dabei zu, wie sie sich an den alltäglichen Pflichten abarbeitet. Er ahnt, dass dies ein entscheidender Moment im Leben ist: „Den eigenen Freund so zu sehen, das ist so nah, wie man an die eigene Sterblichkeit herankommen kann.“ Mirko bleibt dabei nicht nur eine Figur. Sein Nichthandeln wird selbst zur Handlung. So wird er zu einer permanenten Metapher für die Flucht vor dem Selbst.

Der Besucher wird im Wechsel von Daniel Nerlich und Jakob Benkhofer gespielt, die sich mit gleicher Klamotte und zwei albernen blonden Perücken zum Verwechseln ähnlich sehen. Immer schneller tauschen sie ihre Rollen. Nerlich steigt durch eine Klappe in das Bett, in dem Mirko liegt und plötzlich steigt Benkhofer heraus, um mit Nora zu diskutieren, ob sie ihm gefällt oder mit jedem Tag ein wenig hässlicher wird. Die vielseitige Beatrice Frey spielt hierbei neben Johanna Bantzer nicht nur eine zweite, gealterte Nora, sie gibt auch einen kauzig-jammernden Clochard, eine Ärztin und die geschwätzige Tochter von nebenan. Gemeinsam mit dem boxenden Statisten bildet sie ein phantastisch lebhaftes Panorama, auf dem die Hauptfiguren ihr Unglück verhandeln können.

Der namenlose Gast ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Großstadt und dem Drang, das Kind mit Nora zu bekommen, ihr eine Perspektive zu geben und eine Familie zu gründen. Da er als Immobilienspekulant selbst den Ausverkauf der Kleinstadt vorantreibt, bleibt unklar, ob es Schuldgefühl, Nähebedürfnis oder gar Liebe ist, was ihn bleiben lässt.

Als Nora und er übereinander herfallen, als Nora ihren kranken Ehemann vergessen kann, da bleibt nur noch eine Möglichkeit: In einem wahnsinnigen Finale begräbt Daniel Nerlich seinen Jugendfreund Mirko bei lebendigem Leibe. Er befreit sich von der ultimativen Last, befreit sich von seiner Vergangenheit, befreit sich von der menschgewordenen Erinnerung an die Sinnlosigkeit des Alltags. Vielleicht können sie jetzt eine ganz normale Familie sein.  KORNELIUS FRIZ

Nächste Vorstellungen: 13. 5., 18. 5., 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne, Schauspiel Hannover