TONI KEPPELER ÜBER DIE PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN HAITI
: Überraschend wenig Gewalt

Es blieb erstaunlich ruhig am Sonntagabend in Haiti. Im Vergleich zu früheren Wahlen kam es kaum zu Gewalt. Und dies, obwohl der Tag erwartungsgemäß chaotisch verlaufen war. Doch die meisten Haitianer haben andere Sorgen, sie erhoffen sich nichts mehr von der Politik.

In der Hauptstadtregion lebt die Mehrheit der Bevölkerung seit über zehn Monaten in Zeltstädten, im ganzen Land wütet die Cholera-Epidemie. Unter diesen Umständen gelingt es den politischen Führern kaum noch, ihre Anhängerschaft wie sonst zu gefürchteten Gewaltausbrüchen aufzupeitschen. Haiti ist seit der Erdbebenkatastrophe vom 12. Januar verhältnismäßig friedlich.

Dass zwei Drittel der Präsidentschaftskandidaten vorsorglich „Betrug“ schreien und eine Annullierung des noch gar nicht bekannten Ergebnisses fordern, gehört zum üblichen Wahlspektakel. Sie fürchten ihre Niederlage und stimmen ihre Anhänger schon einmal darauf ein. Und sie fürchten, dass Jude Célestine, Zieh- und Schwiegersohn des scheidenden Präsidenten Réne Préval, bei der Auszählung der Stimmen bevorzugt behandelt wird.

Wahlen haben in Haiti nur sehr bedingt etwas mit Demokratie zu tun – unter den gegebenen Umständen noch weniger als sonst. Es wäre sinnvoller gewesen, gleich nach der Erdbebenkatastrophe zusammen mit der Opposition eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, diese mit dem Beginn des Wiederaufbaus zu betrauen und die Wahl um mindestens zwei Jahre zu verschieben. Doch dazu ist in Haiti fast kein Politiker bereit. Die politische Klasse denkt nur an sich selbst. Daher bleibt kein besserer Weg, als dieses Wahlspektakel möglichst gewaltfrei hinzunehmen. Hoffentlich hält die Ruhe noch ein wenig.

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