„Vollbeschäftigung? Seien wir endlich ehrlich“

INTERVIEW ANNIKA JOERES
und ANDREAS WYPUTTA

taz: Frau Schönefeld, Ihre Regionaldirektion betreut knapp eine Million Arbeitslose in Nordrhein-Westfalen. Waren Sie schon einmal ohne Job?

Christiane Schönefeld: Ja, nach dem Studium. Ich hatte mein zweites Staatsexamen in Jura gemacht und mich in Düsseldorf arbeitslos gemeldet. Die haben mir dann eine befristete Stelle im damaligen Landesarbeitsamt vermittelt. Damals wurden noch Nachwuchskräfte gesucht.

Hätten Sie auch einen Ein-Euro-Job angenommen?

Ich glaube ja. Ich wollte unbedingt etwas machen, wollte absolut keine Lücke im Lebenslauf. Eine eigene Kanzlei wollte ich nicht eröffnen, und so fand ich das Angebot der Bundesanstalt für Arbeit gut, als Nachwuchskraft einzusteigen.

Heute würden Sie wohl kein Angebot erhalten.

Ja, das war 1986 eine ganz andere Situation. Akademiker und Juristen hatten ganz andere Möglichkeiten, der öffentliche Dienst hat noch Leute eingestellt. Die Zeit der Vollbeschäftigung war zwar schon etwas länger vorbei...

...wird diese Zeit denn jemals wieder kommen?

Nein, aus jetziger Sicht wird es keine Vollbeschäftigung mehr geben. Die Arbeitsplätze, die wir haben, passen nicht zur Befähigung der Arbeitslosen.

Das Angebot ist wohl auch viel zu gering.

Ja, das natürlich auch. Wir müssen aber feststellen: Wir haben nicht nur ein Arbeitsmarkt-, sondern auch ein gesellschaftliches Problem.

Trotzdem suggerieren Politiker immer wieder, bald könnten alle arbeiten. Ex-Kanzler Schröder versprach die Halbierung der Arbeitslosigkeit, Nordrhein-Westfalens Ex-Ministerpräsident Wolfgang Clement wollte Jugendarbeitslosigkeit zum Fremdwort machen.

Das hat schon fast Tradition. Ohne Not werden unhaltbare Versprechen gemacht. Es hätte Schröder, Clement und anderen klar sein müssen, dass es nie wieder Vollbeschäftigung geben wird. Und dafür müssen wir eine gesellschaftliche Lösung finden.

Wie könnte die aussehen?

Wir brauchen den dritten Arbeitsmarkt. Diesem Thema müssten wir alle viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Es gibt keine andere Chance für viele Arbeitslose. Was mache ich mit Jugendlichen ohne Abschluss und ohne soziale Kompetenzen?

Und wie soll dieser dritte Arbeitsmarkt gestaltet werden?

Ich habe auch kein exaktes Modell in der Schublade. Klar ist aber: Ein Arbeitsplatz ist für viele ein Wert an sich. Menschen wollen arbeiten, um anerkannt zu werden und Teil der Gesellschaft zu sein. Das muss ihnen ermöglicht werden. Denn seien wir ehrlich: Wir werden für schätzungsweise zwanzig Prozent der Arbeitslosen nie wieder eine reguläre Stelle finden.

Als eine Alternative zum staatlich geförderten Arbeitsmarkt wird das Grundeinkommen diskutiert. Was halten sie davon?

Ich glaube nicht daran. Menschen funktionieren so nicht. Sie tun nicht automatisch etwas Konstruktives, nur weil sie Zeit und keine existenziellen Sorgen haben. Natürlich gibt es ein paar gesellschaftlich engagierte Menschen, die ihre Zeit sinnvoll nutzen könnten. Die Mehrheit aber würde das nicht. Es fehlt an Energie, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, kreativ zu denken.

Sind Sie vielleicht auch deshalb dagegen, weil mit einem Grundeinkommen Ihre Behörde überflüssig werden dürfte?

Wieso das denn?

Bei einem bedingungslosen Grundeinkommen würden dann überflüssige Behörden wie Sozialämter, Arbeitsagenturen und Rentenkassen abgeschafft.

Ach so. Auch dann müsste es jemanden geben, der die Menschen stabilisiert und begleitet. Viele werden ihr Leben auch mit einem Grundeinkommen nicht sinnvoll managen können.

Auch jetzt müssen Sie und Ihre Mitarbeiter in den Arbeitsagenturen die Arbeitslosen oft ohne Angebot nach Hause schicken.

Arbeitsangebote sind nicht unsere einzige Aufgabe. Wir klären die Menschen auf. Wir sagen ihnen, welche Chancen sie noch haben. Ich selbst hospitiere manchmal in den Arbeitsagenturen, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Da kommt dann auch ein entlassener Außendienstmitarbeiter einer Parfümerie, Ende 50. Der denkt, er hat viele Kontakte und könnte sofort wieder einsteigen, obwohl er noch nie mit dem Computer gearbeitet hat. Da müssen wir ihm sagen: Das wird nicht möglich sein.

Ist das nicht frustrierend, so einen Mangel zu verwalten?

Natürlich gibt es oft Enttäuschungen, auf beiden Seiten. Meine Mitarbeiter sind auch enttäuscht, wenn unser Kunde nicht aktiv werden will. Nicht jeder ist schließlich begeistert über ein Jobangebot. Das erfordert eine ganz hohe Frustrationstoleranz.

Wie viele Arbeitslose wollen denn gar nicht arbeiten?

Es gibt eine ältere Untersuchung, die spricht von etwa zwanzig Prozent. Davon haben aber zehn Prozent gute Gründe, nicht arbeiten zu wollen, zum Beispiel weil sie schwanger sind oder kurz vor der Rente stehen. Also bleiben zehn Prozent, die versuchen, das System für sich arbeiten zu lassen.

Zehn Prozent. Das sind nicht viele. Dennoch kreist die Diskussion immer wieder um diese wenigen, die mit Strafen zur Arbeit gebracht werden sollen.

Ich halte nichts von dieser harschen Richtung. Sanktionen sind nur dann sinnvoll, wenn ich den Menschen auch etwas bieten kann, also wenn sie konkrete Chancen oder Angebote ablehnen. Sonst wird es als Drangsalierung empfunden, und das zu Recht. Wenn Sanktionen aber Menschen aus ihrer Lethargie reißen, kann ein wenig Druck auch ein Umdenken auslösen.

Das heißt, schärfere Sanktionsmaßnahmen, wie sie jetzt auch die CDU fordert, sind nicht nötig?

Nein, absolut nicht. Die uns zur Verfügung stehenden Sanktionen sind ausreichend und angemessen. Sie müssen aber auch angewendet werden. Wir haben auch viele Mitarbeiter, die eher sozialarbeiterisch denken. Sie sagen: Wenn ich diesem Arbeitslosen 30 Prozent kürze, wovon soll der dann noch leben?

Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers klagt, das gesamte jetzige System sei ungerecht, und will für Ältere, die lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, auch längere Bezugszeiten des höheren Arbeitslosengeldes I durchsetzen.

Ich finde das falsch. Wir sind keine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, kein Sicherungssystem für Ältere beim Übergang zur Rente.

Und was halten Sie dann von Ein-Euro-Jobs? Viele empfinden die als ausbeuterisch.

Wir haben heute rund 50.000 dieser Arbeitsmöglichkeiten in NRW. Die sind wirkungsvoll, viele Menschen freuen sich über diese Jobs. Sie beziehen ja nicht nur diesen Stundenlohn, sondern durchschnittlich 845 Euro, plus einen Euro in der Stunde. Es kommt auf das Grundverständnis an. Bekommt jemand Transferleistungen, will er auch etwas dafür tun.

Aber das ursprüngliche Ziel wurde nicht erreicht, nämlich Menschen über diese Jobs in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Das schaffen nur zehn bis 15 Prozent.

Diese Arbeitsgelegenheiten sind ein gutes Instrument, haben aber mit regulärer Arbeit nichts zu tun. Die Arbeitsgelegenheiten strukturieren wieder den Alltag dieser Menschen, sie geben ihnen einen Grund, morgens aufzustehen. Es gibt viele Personen, die haben das in ihrer Familie nie kennengelernt. Ein Mädchen fragte uns einmal, warum sie denn als einzige morgens um acht aus dem Haus soll, wenn die ganze Siedlung noch schläft. Das kann man diesem Mädchen gar nicht vorwerfen. Das ist ein Lernprozess.

Nun beklagen zum Beispiel Gärtner immer wieder, dass Städte Ein-Euro-Jobber einsetzen, um ihre Grünanlagen zu pflegen.

Das hören wir immer wieder. Aber all diese Jobs existieren doch nur in der Theorie. Natürlich könnten fest angestellte Landschaftsgärtner Parkanlagen pflegen. Aber in der Praxis haben die Städte dafür kein Geld. Würden keine Ein-Euro-Jobber eingesetzt, würde es niemand machen.

Es gibt andere Beispiele. Zum Beispiel setzt Recklinghausen bei Renovierungen im Sportbereich nur noch Jobber ein.

Das kann nicht sein, da schauen wir wie in Duisburg genau hin. Klar ist: Die Arbeitsgelegenheiten müssen zusätzliche Tätigkeiten sein, die sonst nicht erledigt werden. Es wird immer aber Grenzbereiche geben, wie schon damals bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Und da sind wir machtlos.

Wie bei den Ausbildungsplätzen? Da können Sie die Firmen auch nicht zwingen, mehr Lehrstellen anzubieten.

Das können wir nicht, wir können ihnen nur die Probleme darlegen, die entstehen, wenn sie jetzt nicht ausbilden. Die Unternehmen verlassen sich zu sehr auf den Staat, das geht nicht unbegrenzt so weiter. Wir haben die volkswirtschaftliche Pflicht, auch in den kommenden Jahren Jugendliche zu Fachkräften auszubilden.

Kann eine Ausbildungsumlage helfen?

Nein. Die würde im Zweifelsfall einfach gezahlt. Neu eingestellt wird niemand. Wir brauchen neue Möglichkeiten der Ausbildung, also zum Beispiel eine kürzere für mehr praktisch ausgerichtete Jüngere. Den neuen Beruf Abbruchtechnik kann man in zwei Jahren erlernen. Das duale System muss erhalten bleiben. Wir sollten mehr Ausbildungsmodule anbieten, die sich ergänzen. Das kann Firmen und Jugendliche motivieren.

Wie werden eigentlich Ihre Kinder ausgebildet?

Die sind noch zu klein, neun und elf Jahre, und gehen zur Schule. Wenn sie ihren Abschluss haben, ist der Schülerberg, sind die geburtenstarken Jahrgänge gerade im Job. Da muss ich mir keine Sorgen machen.