Bloß keine klare Linie zeigen

STRATEGIE Die Polizei versuchte beim 1. Mai zu verhindern, dass sich Fronten zwischen ihr und den Demonstranten bildeten. Deswegen zogen immer wieder kleine Einheiten mitten durch die Menge und verharrten ein Weilchen. Die Taktik ist aufgegangen

Immer wieder gab es auf dem Myfest am Donnerstagabend in Kreuzberg dieses Bild: Eine kleine Gruppe von acht bis zehn Polizisten schlängelt sich im Gänsemarsch durch die Menge, sammelt sich dann und beobachtet die Leute um sich herum. Die Beamten warten eine Weile und schlängeln sich schließlich weiter. Etwas später kommt dann die nächste Polizeigruppe. Und immer in voller Montur mit aufgesetztem Helm und heruntergezogenem Visier. Viele Myfest-Besucher fragten sich: Warum müssen die so provozieren?

Doch der erste Eindruck täuscht: Diese Vorgehensweise der Polizei hat – neben anderen Faktoren – mit dazu beigetragen, den 1. Mai in Kreuzberg zu befrieden. Die Taktik half dabei, die ausufernden Straßenschlachten zu beenden, die noch im vergangenen Jahrzehnt regelmäßig zu erheblichen Beschädigungen im ganzen Stadtteil führten.

Polizeifreie Zone

Damals gab es eine klare Trennung: Hier waren die Polizisten, dort die gewaltbereiten Demonstranten. Dort, wo beide Seiten aufeinandertrafen, schleuderten die einen Tränengasgranaten und fuhren Wasserwerfer auf, die anderen warfen Steine und Flaschen. Hinter den Demonstranten lag eine polizeifreie Zone, in der Anarchie herrschte. Dort wurden Pflastersteine aus dem Bürgersteig gebrochen und zur Front gebracht, dort etablierte sich ein Rückzugsort für die Steinewerfer. Die Front hat sich ab und zu verschoben – wenn die Steinewerfer die Polizei zurückgedrängt hatten oder wenn die Polizei einen Gegenangriff gestartet hatte.

Aber während der stundenlangen Straßenschlachten gab es Straßenzüge, die komplett dem Zugriff der Polizei entzogen waren. Dort zündeten Autonome und junge Gewalttouristen in Ruhe Autos an, entglasten Bushaltestellen, bauten Straßensperren und plünderten Supermärkte. Das Risiko, dafür belangt zu werden, war gering: Die Polizei befand schließlich weit genug weg, auf der anderen Seite der Front. Am nächsten Morgen lagen die Straßen voller Steine, Scherben und ab und an ausgebrannter Autowracks.

Die aktuelle Polizeitaktik ist, dass es keine polizeifreien Gebiete mehr gibt. Die Beamten stehen überall in kleinen Gruppen, dadurch kann sich keine klare Front etablieren. Unter solchen Umständen können gewaltbereite Demonstranten höchstens noch eine Flasche, einen Böller oder einen Stein werfen – und müssen befürchten, schnell herausgegriffen und festgenommen zu werden. Aber eine ausgewachsene Straßenschlacht ohne klare Front ist schlichtweg unmöglich. SEBASTIAN HEISER