Schmecken, hören, spielen

PARALLELWELT-SAFARI Für sein Festival „Vietnamesen in Berlin“ lädt das Hebbel am Ufer auf eine Kunst-Theater- Info-Rallye zwischen Asia-Lebensmitteln und Nagelstudiobedarf auf dem Dong-Xuan-Markt in Lichtenberg

Man lernt eine Menge über die doppelt gesplittete Geschichte der Zuwanderung

VON DOMINIKUS MÜLLER

Mitten in der riesigen, vollgestopften Lagerhalle steht ein Bürocontainer, und mitten in diesem kleinen, übervollen Container steht eine billige, deutsch-gemütliche Couch. Dort sitzen vier vietnamesische Herren mittleren Alters und singen aus vollen Kehlen einen alten Ostrockklassiker von den Puhdys. Dann legen sie die Gitarre weg und fangen an zu reden: über die Zeit im Wohnheim, damals, als sie als Vertragsarbeiter aus dem sozialistischen Bruderstaat Vietnam in die DDR kamen. Darüber, dass es ihnen dort nicht erlaubt war, selbst zu kochen, und dass sie ihre Sehnsucht nach vietnamesischen Gerichten mit einer heimlich gekochten Substitut-Pho-Suppe mit klein geschnittener Wursteinlage stillen mussten. Und während sie das erzählen, wachsen draußen in der Halle des Lichtenberger Dong Xuan Centers die Pakettürme mit Asia-Lebensmitteln in den Himmel.

Nguyen Hung Son, Cao The Hung, Do Quang Nghia und Nguyen Van Loi sind Teil des Dong Xuan Festivals, das das HAU diese Woche auf dem Gelände dieses sich über mehrere Hallen erstreckenden asiatischen Indoor-Großmarktes veranstaltet. Genauer: Die vier sind das ausführende Organ des Beitrages von Rimini Protokoll. 16 Beiträge gibt es, verteilt auf zwei Touren, die mitten hineinführen sollen in das vietnamesische Leben in Deutschland und hier vor Ort an seinem merkantilen und kulturellen Berliner Mittelpunkt.

Man kauft sich also am ehemaligen Werkstor des 1997 abgewickelten VEB Elektrokohle, dessen Gelände dies hier einmal war, eine Karte, bekommt einen Laufplan an die Hand und läuft los, hinein ins Chaos von aberhunderten Geschäften und Minidienstleistungsbetrieben, die alles anbieten, was man so anbieten kann, von fantastischen Lebensmitteln über Plastikblumen, Klamotten und Nähdiensten bis hin zu Nagelstudioutensilien, wie der Nagelstudionagelfeile und dem Nagelstudiostuhl.

Flucht als Brettspiel

Man kann bei einer Näherin möchtegern-dekonstruktive Kleidungsstücke bestellen, die der Künstler John Bock entworfen hat aus dem, was hier angeboten wird. Man probiert, begleitet von den beiden Modedesignerinnen Johanna Perret und Tutia Schaad, mitten im Großmarkt diverse vietnamesische Köstlichkeiten, während am Ende des Tischs auf einem Flatscreen die Familie von Schaad am Küchentisch in Hanoi zu sehen ist. Oder man spielt mit Truong Nguyen auf einem Brettspiel namens „Glücklicher Stern“ die Flucht seiner Familie aus Vietnam nach.

Keine Frage, man lernt eine Menge auf dieser Theater-Kunst-Info-Rallye: über die kulturelle und ökonomische Realität der Vietnamesen in Deutschland, deren öffentliches Bild extrem zwischen dem illegalen Zigarettenverkäufer am S-Bahnhof und der „vorbildlich“ integrierten, weil bildungs- und leistungsorientierten Minderheit changiert. Man lernt eine Menge über die doppelt gesplittete Geschichte der Zuwanderung: über die Vertragsarbeiter des sozialistischen Bruderstaats im Osten und die politisch motivierte Flucht der Boatpeople im Westen.

Andererseits ist da aber auch der unangenehme Touch einer Mischung aus Migrantensafari und Kulturschnitzeljagd, die dem hauptstädtischen und natürlich überwiegend „klassisch“ deutschen Kunst- und Theaterpublikum eine exotische Parallelwelt, prekäre Gegenwart und traumatische Vergangenheit näherbringen soll. Die Authentizität des Biografischen wird dabei zum Verkaufsargument. Haarscharf schrammt man immer wieder an der Grenze zur erneuten Ausbeutung entlang, gedeckt und befeuert gleichermaßen von bildungsbürgerlich-schlechtem Gewissen.

Achtung, Fallstricke!

Dass das Festival in seiner Gesamtheit diesen Fallstricken aber dennoch entkommt, liegt zum einen an den fantastischen Protagonisten und der Bandbreite der Beiträge, zum anderen an einer Reihe von Stationen, die sich wie etwa Julia Pfleiderers Audioarbeit im ehemaligen Badehaus der VEB Elektrokohle auch mit Geschichte und Ideologie der DDR auseinandersetzen und den Vietnamausflug im Kleinen zu einer Psychogeografie des Orts im Großen ausdehnen.

Nicht zuletzt liegt das Gelingen aber auch an Danh Vo, der sich im Vorfeld des Festivals zu dessen Sprachrohr und Gesicht gemacht hat – und das, obwohl der prominente Künstler vor nicht allzu langer Zeit behauptet hatte, nie bei dezidiert vietnamesischen Veranstaltungen mitmachen zu wollen. Er hat von 10 Vietnamesen, darunter seinem eigenen Vater, sämtliche Plakate des Festivals handschriftlich herstellen lassen und hat vor Ort ein Meer von Handbesen aus Sisal installiert, die er aus Thailand importiert hat. Hier werden nun endlich die pauschalisierenden Erwartungshaltungen des westlichen Publikums auseinandergenommen, ebenso wie die vermeintliche Unhintergehbarkeit des biografischen Elements, das im Laufe des Festivals über die Maßen betont wird.

■ „Dong Xuan oder Frühling in Lichtenberg“, Industriegebiet Herzbergstraße, 24. u. 25. 11. 2010, jew. 15 bis 18 Uhr Start im 10-Minuten-Takt (Dauer 150 Min., Anm. erforderlich). Weitere Veranstaltungen im HAU bis Samstag, Information: www.hebbel-am-ufer.de